Chris Harman

Das ist Marxismus


Wirtschaftskrisen


„Akkumulation von Reichtum einerseits und von Armut andererseits“, so faßte Marx die Entwicklung des Kapitalismus zusammen.

Jeder Kapitalist fürchtet die Konkurrenz des anderen, deshalb treibt er seine Beschäftigten so hart wie möglich an, deshalb zahlt er ihnen einen möglichst geringen Lohn.

Das Resultat ist ein Mißverhältnis zwischen dem ungeheuren Wachstum der Produktivkräfte auf der einen Seite und einem begrenzten Wachstum der Löhne und der Anzahl der beschäftigten Arbeiter auf der anderen Seite. Das ist nach Marx die grundlegende Ursache für die Wirtschaftskrisen.

Das läßt sich sehr einfach erklären: Wer kauft die wachsende Menge der Waren? Die niedrigen Löhne der Arbeiter machen es unmöglich, daß sie es sich leisten könnten, die von ihnen selbst hergestellten Güter auch zu kaufen. Und die Kapitalisten können die Löhne nicht entsprechend erhöhen, weil das ihren Profit zerstören würde, die treibende Kraft des Systems.

Aber wenn die Firmen die Waren, die sie herstellen, nicht verkaufen können, müssen sie Fabriken stillegen und Arbeiter entlassen. Die Gesamtmasse der Löhne verringert sich dann noch mehr und weitere Fabriken können ihre Waren nicht mehr verkaufen. Eine Überproduktionskrise entsteht. Berge von Waren häufen sich in der ganzen Wirtschaft an, die die Menschen sich nicht leisten können.

Das war ein immer wiederkehrendes Merkmal der kapitalistischen Gesellschaft in den letzten 160 Jahren.

Aber ganz gewitzte Verteidiger des Systems werden nun rasch eine einfache Lösung für die Krise anbieten. Die Kapitalisten brauchen nur ihre Profite in neuen Fabriken und Maschinen anzulegen, dann werden mehr Arbeiter eine Stelle finden, die dann ihrerseits wieder mehr Geld haben und so die unverkauften Waren kaufen können. Mit anderen Worten: Solange es Neuinvestitionen gibt, können alle hergestellten Waren verkauft werden, und das System kann die Vollbeschäftigung sichern.

Marx war kein Narr, der das übersehen hätte. Wie wir bereits festgestellt haben, gibt es geradezu einen Zwang für die Kapitalisten, ständig neue Investitionen zu machen, weil sie sonst durch die Konkurrenz aus dem Rennen geworfen werden. „Aber heißt das auch, daß die Kapitalisten tatsächlich ihre Profite ständig und fortwährend investieren werden?“, fragte er sich.

Der Kapitalist wird nur dann investieren, wenn er die Garantie auf einen „vernünftigen“ Profit sieht.

Wenn er nicht mit einem entsprechenden Profit rechnen kann, wird er das Risiko, sein Geld zu investieren, nicht eingehen. Er wird es stattdessen auf die Bank legen und dort lassen.

Ob der Kapitalist investiert oder nicht, hängt davon ab, wie er die wirtschaftliche Lage einschätzt. Wenn die Lage gut aussieht, stürzen sich alle Kapitalisten gleichzeitig auf neue Investitionen, fallen übereinander her bei der Suche nach neuen Bauplätzen, beim Kauf neuer Maschinen, bei der Suche nach neuen Rohstoffquellen in allen Teilen der Welt und sind sogar bereit, höhere Löhne für knappe Facharbeitskräfte zu bezahlen.

Das nennt man gewöhnlich den Boom oder die Hochkonjunktur.

Aber der irrsinnige Wettlauf um Bauland, Rohstoffe und Facharbeiter treibt die Preise in die Höhe, plötzlich entdecken einige Firmen, daß ihre Kosten so stark angestiegen sind, daß all ihre Profile zunichte sind.

Der Investitionsboom weicht ganz plötzlich einer Investitionskrise. Niemand will mehr neue Fabriken – Bauarbeiter werden entlassen. Niemand will mehr neue Maschinen – die Maschinenbauindustrie gerät in eine Krise. Niemand will mehr das ganze Eisen und den Stahl kaufen – die Stahlindustrie ist plötzlich nicht mehr voll ausgelastet und wirft nicht mehr genügend Profit ab. Stillegungen und Schließungen springen von einem Industriezweig zum nächsten über, Arbeitsplätze werden vernichtet und mit ihnen die Kaufkraft der Arbeiter, um die Waren anderer Industriezweige zu kaufen.

Die Geschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte solcher periodischer Pendelschläge in die Krise, in den Wahnsinn, wo arbeitslose Arbeiter hungrig vor stilliegenden Fabriken stehen und unverkaufbare Warenberge dahinrotten.

Der Kapitalismus bringt die Überproduktionskrisen in regelmäßigen Abständen hervor, weil es keine Planung gibt. Daher gibt es auch keine Möglichkeit, die panikartigen Bewegungen des Kapitals rein in die Investitionen und wieder heraus zu stoppen.

Viele dachten, daß der Staat dazu in der Lage sei. Durch sein Eingreifen in die Wirtschaft könne der Staat selbst investieren, wenn die Privatinvestitionen niedrig wären und seine Investitionen wieder zurückschrauben, wenn die Privatinvestitionen wieder anzögen. Der Staat könne so die Produktion auf einer gleichen Höhe halten. Aber heutzutage sind Staatsinvestitionen selbst diesen verrückten Schwankungen unterworfen.

Nehmen wir als Beispiel die deutsche Stahlindustrie. Vor ein paar Jahren wurden im Ruhrgebiet und an der Saar zehntausende Stahlarbeiter entlassen, mit Hilfe staatlicher Investitionsprogramme. Damals wurde eine Reihe von großen Stahlbetrieben zusammengelegt, andere wurden stillgelegt. Stattdessen sollten neue, noch modernere, arbeitskräftesparende Produktionsanlagen aufgebaut werden. Für diese Zwecke gab die Regierung riesige Investitionskredite an private Firmen. Mehr Stahl sollte so billiger hergestellt werden.

Heute heißt es, daß wieder Tausende von Arbeitern ihre Arbeitsplätze verlieren sollen, weil die deutsche Stahlindustrie nicht die einzige war, die rationalisiert hat, die riesige Anlagen aufbaute. Frankreich, England, die USA, Brasilien, Osteuropa und sogar Südkorea machten alle einen weltweiten Überschuß an Stahl – eine Überproduktionskrise. Die Stahlinvestitionen werden beschnitten.

Das ist der Preis, den die Menschheit bis zum heutigen Tag für ein Wirtschaftssystem bezahlen muß, das einer kleinen privilegierten Gruppe, die nur am Profit interessiert ist, Reichtümer gibt. Es macht keinen Unterschied, ob diese Gruppe die Industrie direkt kontrolliert oder indirekt, wie zum Beispiel die staatlichen Unternehmen VW und Veba. Sie benutzen ihre Verfügungsgewalt über die Industrie dazu, miteinander um den größten Anteil des Profits zu konkurrieren, und die Arbeiter haben währenddessen die Folgen zu erleiden.

Der eigentliche Wahnsinn dieses Systems liegt darin, daß die „Überproduktionskrise“ gar keine ist: All die „überschüssigen“ Mengen an Stahl könnten helfen, den Welthunger zu beseitigen. Bauern in vielen Teilen der Welt beackern bis zum heutigen Tag ihre Äcker mit hölzernen Pflügen – Stahlpflüge würden die Nahrungsmittelproduktion steigern. Aber diese Bauern haben kein Geld, deshalb interessiert das die Kapitalisten nicht – da ist kein Profit zu holen.
 

Warum sich Krisen verschärfen

Wirtschaftskrisen kommen und gehen mit monotoner Regelmäßigkeit. Aber sie werden mit der Zeit auch immer schlimmer.

Selbst wenn es bei den Investitionen keine Schwankungen nach oben und unten gäbe und sie beständig in gleicher Höhe vorgenommen würden, änderte dies nichts am allgemeinen Trend zur Krise.

Der Grund dafür liegt in der Konkurrenz unter den Kapitalisten und den kapitalistischen Nationen, die sie dazu zwingt, arbeitskräftesparende Anlagen anzuschaffen. Die meisten Investitionen heute in der BRD werden gemacht, um die Zahl der beschäftigten Arbeiter zu senken. Deshalb gibt es jetzt weniger Industriearbeiter als vor zehn Jahren. Obwohl sich die Industrieproduktion in der Bundesrepublik zwischen 1970 und 1980 um etwa ein Drittel erhöht hat, ist die Zahl der Industriearbeiter im gleichen Zeitraum von 12,2 um mehr als eineinhalb Millionen Arbeiter auf 10,8 Millionen gefallen.

Nur durch die Rationalisierung der Produktion, durch Erhöhung der Produktivität und durch den beständigen Abbau der beschäftigten Arbeitskräfte kann ein Kapitalist heute sein Stück vom Kuchen vergrößern. Aber das Ergebnis ist für das gesamte System verheerend. Denn es bedeutet, daß die Zahl der Arbeiter sich nicht annähernd so rasch vermehrt wie die Investitionen.

Aber die Arbeit ist die Quelle des Profits, die Energie, die das System am Leben erhält.

Wenn die Investitionen größer und größer werden, ohne daß es eine entsprechende Ausdehnung der Quelle des Profits gibt, ist der Zusammenbruch schon vorprogrammiert.

Deshalb hat Marx vor über 100 Jahren vorausgesagt, daß gerade der Erfolg des Kapitalismus, riesige Investitionen in der Form neuer Anlagen anzuhäufen, einen tendenziellen Fall der Profitrate mit sich bringen müßte und damit auch die sich ständig verschärfenden Krisen.

Seine Behauptung kann sehr einfach auf den heutigen Kapitalismus übertragen werden. An die Stelle des früheren Auf und Ab der Konjunktur, des ständigen Wechsels von Krise und Aufschwung, tritt die weltweite, nicht enden wollende Krise. Selbst in der Bundesrepublik, die gern als mustergültiges Land des Wachstums hingestellt wird, hat sich die Wirtschaft seit der Krise von 1974 nicht mehr richtig erholt. Die Konjunkturaufschwünge sind flacher und kürzer geworden. Sie reichen auch nicht mehr aus, um die Arbeitslosigkeit wesentlich abzubauen.

Die Anhänger des Systems führen das darauf zurück, daß die Investitionen nicht hoch genug waren. Ohne neue Investitionen gebe es keine neuen Arbeitsplätze und ohne neue Arbeitsplätze dann auch kein Geld, um neue Waren zu kaufen. Soweit können wir zustimmen, aber wir stimmen nicht überein mit ihrer Erklärung, warum das so ist.

Sie geben den Löhnen die Schuld. Die Löhne seien zu hoch, sagen sie, und das bedrohe die Profite im innersten Mark. Die Kapitalisten fürchten sich, zu investieren, weil sie keine Garantie für eine „ausreichende Entschädigung“ mehr sehen.

Aber die Krise dauert jetzt schon über zehn Jahre, in denen der Lebensstandard der Arbeiter durch die Regierungspolitik beschnitten und die Profite hochgetrieben wurden.

Die Arbeiterklasse ist zwar heute zahlenmäßig größer als 1974, aber ihr Anteil am gesellschaftlichen Reichtum ist gesunken. Die Reichen sind noch reicher geworden – ihr Anteil am Volkseinkommen ist seit 1974 beträchtlich gestiegen.

Trotzdem gibt es immer noch nicht genügend Investitionen, um die Krise zu überwinden, und das gilt nicht nur für die Bundesrepublik, sondern erst recht für Großbritannien, für Frankreich und auch für Japan.

Wir wollen besser darauf hören, was Karl Marx vor 100 Jahren gesagt hat, anstatt jenen zu glauben, die heute den Kapitalismus verteidigen.

Marx sagte voraus, daß die Krisen des Kapitalismus mit seiner Dauer sich notwendig verschärfen müßten, weil die Quelle des Profits, die Arbeit, bei weitem nicht so rasch wächst wie die Investitionen, die notwendig sind, um die Arbeiter zu beschäftigen. Marx schrieb zu einer Zeit, als der Wert der Fabrik und der Maschine, der notwendig war, um die Arbeiter zu beschäftigen, noch ziemlich niedrig war. Er ist seitdem in die Höhe geschnellt, und heute kostet ein Arbeitsplatz oft 100.000 DM und mehr.

Die Konkurrenz hat die Firmen gezwungen, noch größere Anlagen und noch teurere Maschinen aufzubauen. Der Zeitpunkt ist längst erreicht, wo in den meisten Industriezweigen die Neuanschaffung von Maschinen gleichgesetzt wird mit dem Abbau von Arbeitskräften.

Die Arbeitsplätze in den wichtigsten Industrieländern der Welt werden in den nächsten Jahren weiter abnehmen, selbst wenn es durch irgendein Wunder noch einmal zu einem Investitionsaufschwung kommen sollte.

Dazu wird es aber nicht kommen. Weil die Kapitalisten sich sehr genau überlegen, ob ihre Geldanlage Profit bringt oder nicht, und wenn sich ihre Investitionen vervierfachen, ihre Gewinne aber nur verdoppeln, dann geraten sie schon ganz aus dem Häuschen. Eben das geschieht aber, wenn die Industrie rascher wächst als die Quelle des Profits, die Arbeit.

Die Profitrate wird tendenziell fallen, sagte Marx. Er sagte voraus, daß ein Zeitpunkt erreicht werde, wo jede neue Investition als gefährliches Abenteuer erscheine. Die Ausgaben für eine neue Anlage und neue Maschinen würden dann kolossal sein, aber die Profitrate wäre zugleich niedriger als je zuvor. Wenn dieser Punkt erreicht sei, würden die einzelnen Kapitalisten (oder kapitalistischen Staaten) Pläne für riesige neue Investitionen schmieden – aber sich zugleich davor fürchten, diese Pläne zu verwirklichen, weil sie Angst vor dem Bankrott hätten.

Die Weltwirtschaft von heute nähert sich diesem Zeitpunkt. Der britische Automobilkonzern Leyland plant neue Produktionsanlagen für einen neuen „Mini“ – aber fürchtet, daß er dabei Verluste macht. Die Spitzen der deutschen Stahlkonzerne träumen von neuen modernen Anlagen – können aber den Stahl, den sie bereits mit den alten herstellen, nicht mehr verkaufen. Die japanischen Schiffsbauer und Werften haben es aufgegeben, in neue Werften Geld zu investieren – einige müssen sogar geschlossen werden.

Gerade der Erfolg des Kapitalismus bei der Entwicklung und beim Einsatz ständig riesigerer und produktiverer Maschinen hat das System an den Punkt einer Dauerkrise gebracht.

In den Sklavengesellschaften des Altertums und in den feudalen Gesellschaften des Mittelalters gab es jeweils einen Zeitpunkt, wo die Gesellschaft entweder durch eine Revolution auf eine neue Stufe gehoben wurde oder in einer Dauerkrise steckenblieb, die eine Rückwärtsentwicklung einleitete.

Im Fall von Rom hatte das Ausbleiben einer Revolution gerade die Zerstörung der römischen Kultur und den Einbruch des „dunklen Mittelalters“ zur Folge.

Im Fall einiger Feudalgesellschaften, erst in England und später auch in Frankreich, zerstörten Revolutionen die alte morsche Ordnung und legten so die Grundlagen für einen neuen gesellschaftlichen Fortschritt, den Kapitalismus.

Heute steht der Kapitalismus seinerseits vor dem Scheideweg zwischen einer Dauerkrise, die die Menschheit schließlich durch Armut und Krieg in die Barbarei zurückschleudern wird, oder einer sozialistischen Revolution.


Zuletzt aktualisiert am 29.12.2011