Chris Harman

Das ist Marxismus


Die Arbeitswertlehre


„Aber Menschen und Kapital sind für die Produktion genauso wichtig wie Arbeit. Wenn das so ist, dann soll auch das Kapital seinen Anteil am Gewinn bekommen, genauso wie die Arbeit. Jeder Produktionsfaktor soll einen Anteil bekommen.“

So würde jemand, der von bürgerlichen Wirtschaftstheorien beeinflußt ist, gegen die marxistische Analyse von der Ausbeutung und des Mehrwerts argumentieren. Auf den ersten Blick scheint der Einwand gerechtfertigt. Denn ohne Kapital lassen sich doch ganz sicher keine Produkte herstellen. Die Marxisten haben niemals das Gegenteil behauptet! Aber unser Ausgangspunkt unterscheidet sich von dem der bürgerlichen Theoretiker. Wir fragen erst einmal: Woher kommt das Kapital? Wie sind die Produktionsmittel ursprünglich entstanden?

Die Antwort darauf zu finden, ist nicht schwer. Alles was die Menschen in ihrer Geschichte benutzt haben, um zu produzieren (sei es eine neolithische Steinaxt oder ein moderner Computer), ist einmal durch menschliche Arbeit hergestellt worden, selbst wenn die Axt mit Werkzeugen hergestellt wurde. Denn auch diese wurden zuvor durch Arbeit erzeugt.

Deshalb verwandte Karl Marx auch den Begriff der vergangenen oder toten Arbeit, wenn er von Produktionsmitteln sprach. Wenn Unternehmer stolz von ihrem Kapital reden, das sie besitzen, so handelt es sich in Wahrheit um die Arbeit vergangener Generationen – und zwar keineswegs um die ihrer eigenen Vorfahren, die ebensowenig gearbeitet haben wie sie selbst.

Die Lehre von der Arbeit als Quelle allen Reichtums – die Arbeitswertlehre – war nicht die Entdeckung von Karl Marx. Alle bürgerlichen Ökonomen vor Marx vertraten diese Lehre.

Männer wie der schottische Ökonom Adam Smith oder der englische Ökonom Ricardo verfaßten ihre Schriften zu einer Zeit, als der industrielle Kapitalismus noch ziemlich jung war – in den Jahren kurz vor und nach der französischen Revolution von 1789; die Kapitalisten hatten damals noch keine vorherrschende Stellung erlangt.

Mit der Entwicklung des Kapitalismus wurde es notwendig, zu begreifen, was die Quelle des Reichtums war. Die Theorie von Smith und Ricardo erklärte, daß die Arbeit den Reichtum schaffe und daß es deshalb erforderlich sei, die Arbeit von jeder Kontrolle und Beschränkung durch die alten, vorkapitalistischen Herrscherklassen zu „befreien“, damit der Reichtum wachsen könne.

Aber es dauerte nicht lange, bis andere Denker aus dem Umfeld der Arbeiterklasse dieses Argument gegen die Freunde von Smith und Ricardo kehrten: wenn Arbeit den Reichtum schaffe, dann schaffe Arbeit auch das Kapital. Und die „Rechte des Kapitals“ sind dann nichts anderes als die Rechte gestohlener Arbeit. Bald erklärten die bürgerlichen Ökonomen die Arbeitswertlehre für ungültig. Aber wenn man die Wahrheit zum Hauptportal hinauswirft, kehrt sie gewöhnlich durch den Hintereingang zurück.

Man braucht sich nur die Kommentare während des Stahlarbeiterstreiks um den Einstieg in die 35-Stunden-Woche vom Winter 78/79 in Erinnerung zu rufen. Da waren täglich die Zeitungen voll damit, daß die Arbeitsleistung gefährdet sei, daß eine nationale Katastrophe drohe, wenn weniger gearbeitet würde. Lassen wir einmal außer acht, ob das Argument stimmt oder nicht. Achten wir lieber darauf, wie die Begründungen lauten. Da war nie die Rede davon, daß die „Maschinen weniger arbeiten“ würden. Nein, es ging stets um die Menschen, um die Arbeiter.

Da war immer die Rede davon, daß bei kürzerer Arbeitszeit weniger produziert würde, und daß sich das zum Schlechten auf die Anschaffung neuer Maschinen und Anlagen auswirken würde. Die Menschen, die so schrieben, waren sich bestimmt nicht dessen bewußt, daß sie nichts anderes sagten, als daß mehr Arbeit auch mehr Kapital bedeute. Oder daß Arbeit die Quelle des Reichtums der Kapitalisten ist.

Nehmen wir an, ich habe einen Zehnmarkschein in der Tasche. Warum ist es nützlich, ihn zu besitzen? Schließlich ist es nur ein Stück bedrucktes Papier. Sein Wert besteht für mich darin, daß ich im Tausch für den Geldschein etwas Brauchbareres bekommen kann, was durch die Arbeit anderer geschaffen worden ist. Der Geldschein ist daher nichts anderes als ein Anrecht, ein Titel auf eine entsprechende Menge Arbeit. Ein Zwanzigmarkschein auf doppelt soviel Arbeit usw.

Wenn wir Reichtum messen wollen, dann messen wir nichts anderes als die Arbeit, die für seine Produktion notwendig war.

Natürlich schafft nicht jeder in einer bestimmten Zeit mit seiner Arbeit so viel wie ein anderer. Wenn ich mich z. B. daran machte, einen Tisch herzustellen, dann würde ich mit Sicherheit mindestens fünf- bis sechsmal soviel Zeit dafür wie ein gelernter Tischler brauchen. Aber niemand, der nur ein bißchen Grips im Kopf hat, käme auf die Idee zu behaupten, mein Tisch sei fünf- oder sechsmal soviel wert wie der eines gelernten Tischlers. Stattdessen würde man den Wert danach schätzen, wie lange der Tischler arbeiten müßte, um ihn herzustellen, nicht aber wie lange ich dazu bräuchte.

Nehmen wir an, ein Tischler würde eine Stunde brauchen, um einen Tisch herzustellen. Dann würden wir sagen, der Wert des Tisches gleiche einer Stunde Arbeit. Das ist die Arbeitszeit, die für die Herstellung eines Tisches notwendig ist, wobei ein bestimmter Stand der Technik und der beruflichen Qualifikation, wie er in unserer Gesellschaft heute vorherrscht, zugrunde zu legen ist.

Deshalb bestand Marx darauf, daß das Maß des Wertes irgendeines Produktes nicht einfach die Zeit sein könne, die irgendjemand zu seiner Herstellung braucht, sondern die Zeit, die ein Mensch mit durchschnittlicher Qualifikation und mit durchschnittlicher technischer Ausrüstung dazu braucht. Marx nannte diese durchschnittlich notwendige Arbeitszeit auch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit.

Diese Aussage ist sehr wichtig, da im Kapitalismus ständig technische Neuerungen stattfinden, was gleichbedeutend ist damit, daß immer weniger Arbeit nötig ist, um eine Sache herzustellen.

Als z. B. Radios noch mit Elektroröhren hergestellt wurden, waren sie ziemlich teuer, weil viel Arbeit notwendig war, um die Röhren herzustellen, sie zu verdrahten usw. Dann wurde der Transistor entwickelt, der mit weniger Arbeit verdrahtet und hergestellt werden konnte.

Plötzlich war die Arbeit all jener Arbeiter viel weniger wert, die immer noch Röhrenradios herstellten. Denn der Wert der Radios wurde nun nicht mehr nach der Arbeitszeit bestimmt, wie sie bei der Verwendung von Röhren notwendig war, sondern stattdessen nach der Zeit, die nötig war, um sie mit Transistoren herzustellen.

Eine letzte Anmerkung hierzu. Die Preise der Waren schwanken beträchtlich – oft genug innerhalb von Wochen oder Tagen. Diese Schwankungen können durch ganz andere Faktoren als die Arbeitszeit hervorgerufen werden, die zu ihrer Herstellung notwendig ist.

Wenn in Brasilien die Kaffeepflanzen durch Frost vernichtet werden, steigen die Kaffeepreise in der ganzen Welt, weil es zu einer Kaffeeknappheit kommen kann und die Menschen bereit wären, einen höheren Preis zu bezahlen. Wenn morgen durch eine Naturkatastrophe in Deutschland alle Autos zerstört würden, dann schössen ohne Zweifel die Autopreise steil in die Höhe. Was die Ökonomen mit „Angebot und Nachfrage“ bezeichnen, beeinflußt ganz sicher die Preisschwankungen.

Deshalb sagen viele bürgerliche Ökonomen, daß die Arbeitswertlehre unsinnig sei. Sie sagen, daß nur Angebot und Nachfrage den Preis beeinflussen. Aber das ist Unsinn. Denn bei diesem Argument vergessen sie, daß schwankende Dinge immer um eine mittlere Linie schwanken. Das Meer steigt und fällt mit den Gezeiten. Aber das bedeutet nicht, daß wir nicht von einer mittleren Höhe ausgehen, die wir als „Meereshöhe“ bezeichnen.

Ähnlich ist es mit den Preisen. Die Tatsache, daß sie von Tag zu Tag schwanken, schließt keineswegs aus, daß sie um einen bestimmten festen Wert schwanken. Wenn nach unserem Beispiel heute alle Autos vernichtet würden, dann gäbe es eine große Nachfrage nach den ersten neu produzierten Autos und sie wären sehr teuer. Aber es würde nicht lange dauern, bis es wieder immer mehr Autos auf dem Markt gäbe, und durch die Konkurrenz der verschiedenen Hersteller würde der Preis auf ihren Wert sinken, gemessen an der Arbeitszeit, die zu ihrer Herstellung notwendig ist.
 

Konkurrenz und Akkumulation

Es gab eine Zeit, da schien es, als wäre der Kapitalismus ein dynamisches und fortschrittliches System. Den größten Teil der Menschheitsgeschichte hatten Frauen und Männer unter Plackerei und Ausbeutung gelitten. Der Industriekapitalismus hat daran erst einmal nichts geändert, seit er sich mit dem 18. und 19. Jahrhundert rasch ausbreitete.

Aber es schien, als bekämen Plackerei und Ausbeutung nun einen nützlichen Zweck. Statt riesige Reichtümer für das Luxusleben einiger schmarotzender Aristokraten oder für den Bau von Luxusgräbern toter Könige oder für sinnlose Erbfolgekriege zu verschwenden, schaffte der Kapitalismus mit seinen Reichtümern die Voraussetzungen und Mittel, um noch mehr Reichtum hervorzubringen. Der Aufstieg des Kapitalismus war eine Periode des Wachstums der Industrie, der Städte und Transportwege. Und das alles vollzog sich in einem Tempo, das nie zuvor in der Geschichte auch nur annähernd erreicht worden war.

Die ersten Textilfabriken Englands – Oldham, Halifax oder Bingley – waren Weltwunder. Niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte waren so große Mengen Wolle und Baumwolle in so kurzer Zeit zu Stoffen verarbeitet worden, mit denen Millionen eingekleidet werden konnten. Das war nicht irgendwelchen Wundergaben der Kapitalisten zu verdanken. Die kannten schon immer nur ein Ziel: nämlich möglichst viel Reichtum an sich zu reißen, indem sie möglichst wenig für die von ihnen beanspruchte Arbeit ausgaben.

Viele herrschende Klassen vor ihnen haben sich genauso verhalten, ohne eine Industrie aufzubauen. Denn die Kapitalisten unterschieden sich in zwei wichtigen Punkten.

Der erste Unterschied war: sie besaßen keine Arbeiter, sondern bezahlten ihnen stattdessen stundenweise ihre Fähigkeit zu arbeiten, ihre Arbeitskraft. Sie setzten Lohnsklaven statt Sklaven ein. Zweitens verbrauchten sie nicht selbst die Güter, die von ihren Arbeitern hergestellt wurden. Der Feudalherr lebte direkt von dem Fleisch, Brot, Käse, Wein, die seine Leibeigenen produzierten. Der Kapitalist lebte davon, daß er die Güter, die von seinen Arbeitern hergestellt wurden, an andere Menschen weiter verkaufte.

Das gab den einzelnen Kapitalisten weniger Freiheit als dem einzelnen Feudalherren oder Sklavenhalter. Um Waren zu verkaufen, mußte der Kapitalist diese so billig wie möglich herstellen. Der Kapitalist besaß die Fabrik und konnte innerhalb dieser schalten und walten, wie er wollte. Aber er konnte seine Allmacht nicht nutzen, wie er wollte. Er mußte sich den Anforderungen der Konkurrenz mit anderen Fabriken beugen.

Nehmen wir das Beispiel unserer Lieblingskapitalistin, Frau Mustermann. Nehmen wir an, daß in ihrer Fabrik in zehn Arbeitsstunden eine bestimmte Menge Wolle in Tuch verwandelt wurde, daß aber in einer anderen Fabrik die gleiche Menge Tuch in nur fünf Arbeitsstunden hergestellt werden konnte. Frau Mustermann wäre nicht in der Lage, für ihr Tuch den entsprechenden Wert von zehn Arbeitsstunden zu verlangen. Niemand würde ihr diesen Preis bezahlen, wenn man gerade um die Ecke das Tuch zum halben Preis bekommen könnte.

Ein jeder Kapitalist, der überleben will, muß dafür sorgen, daß seine Arbeiter so schnell wie möglich arbeiten. Aber das ist noch nicht alles. Er muß auch dafür sorgen, daß seine Arbeiter mit den modernsten Maschinen arbeiten, damit ihre Arbeit ebensoviel Güter in einer Stunde hervorbringt wie die Arbeit jener, die für eine andere Fabrik arbeiten. Der Kapitalist, der im Rennen bleiben will, muß sicherstellen, daß er immer größere Mengen Produktionsmittel besitzt oder – wie Marx es ausdrückte – er muß Kapital akkumulieren.

Der Wettbewerb zwischen den Kapitalisten schuf eine Macht: das Marktsystem, das jeden und alle Kapitalisten im Griff hatte. Diese Macht zwang sie, das Arbeitstempo ständig zu verschärfen und soviel wie möglich in neue Maschinen und Anlagen zu investieren. Und sie konnten sich die neuen Maschinen nur leisten, wenn sie die Löhne ihrer Arbeiter so niedrig wie möglich hielten.

Marx sagt in seinem Hauptwerk Das Kapital, daß der Kapitalist sich wie ein Schatzbildner verhält, besessen davon, mehr und mehr Reichtum zu bekommen. Aber:

„Was aber bei diesem als individuelle Manie (persönliche Besessenheit) erscheint, ist beim Kapitalisten Wirkung des gesellschaftlichen Mechanismus, worin er nur ein Triebrad ist ... Die Entwicklung der kapitalistischen Produktion macht eine fortwährende Steigerung des in einem industriellen Unternehmen angelegten Kapitals zur Notwendigkeit, und die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf. Sie zwingt ihn, sein Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten, und ausdehnen kann er es nur vermittels progressiver Akkumulation ...

Akkumuliert, akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!“

Produziert wird nicht zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse – nicht einmal der Bedürfnisse der Kapitalistenklasse – sondern, um es einem Kapitalisten zu ermöglichen, gegen den anderen zu konkurrieren.

Die Arbeiter des einen Kapitalisten erfahren, daß ihr Leben vom Zwang ihres Kapitalisten beherrscht wird, rascher als seine Konkurrenz zu akkumulieren.

Wie Marx im Kommunistischen Manifest schrieb:

„In der bürgerlichen Gesellschaft ist die lebendige Arbeit nur ein Mittel, die angehäufte Arbeit zu vermehren ... Das Kapital ist selbständig und persönlich, während das tätige Individuum unselbständig und unpersönlich ist.“

Der Zwang für die Kapitalisten, in Konkurrenz miteinander zu akkumulieren, erklärt den großen Sprung nach vorn, den die Industrie in den Anfangsjahren ihrer Entwicklung durchgemacht hat. Aber etwas anderes entstand zugleich: wiederkehrende Wirtschaftskrisen. Krisen sind nichts Neues. Sie sind so alt wie das System selbst.


Zuletzt aktualisiert am 29.12.2011