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Eines der unsinnigsten Argumente, denen man immer wieder begegnet, ist, daß die Welt von heute unveränderbar sei. Aber die Welt war anders. Und nicht in irgendeinem entfernten Teil der Erde, sondern in diesem Land, und das ist noch nicht einmal lange her.
Wenn jemand vor 200 Jahren die Welt, wie sie heute aussieht, beschrieben hätte, mit ihren Riesenstädten, ihren großen Fabriken, ihren Flugzeugen und Raumflügen, ja selbst mit ihren Eisenbahnen, dann wäre er für einen Spinner gehalten worden.
Denn damals lebten die Menschen in einer Gesellschaft, die zum allergrößten Teil ländlich war, in der die meisten Menschen sich nie mehr als 20 Kilometer von ihrem Dorf entfernt hatten, in der das Leben wie vor tausend Jahren vor allem durch den Wechsel der Jahreszeiten bestimmt war.
Aber die Entwicklung, die schließlich das gesamte alte Gesellschaftssystem zum Einsturz brachte, setzte in Europa schon vor sieben- oder achthundert Jahren ein. Gruppen von Handwerkern und Händlern hatten begonnen, in Städten zusammenzuleben. Anders als der Rest der Bevölkerung standen sie nicht im Dienste eines Feudalherren, dem sie ihre Leistungen gratis geben mußten, sondern sie tauschten Güter und Waren mit verschiedenen Herren und Leibeigenen. Immer häufiger benutzten sie wertvolle Metalle als Wertmaßstab bei diesem Tausch. Es war kein großer Schritt bis zu dem Punkt, wo im Tausch vor allem die Möglichkeit gesehen wurde, ein bißchen mehr dieser wertvollen Metalle zu bekommen. Das Profitsystem begann.
Zuerst konnten die Bürger in den Städten nur dadurch überleben, daß sie einen Herrn gegen den anderen ausspielten. Aber in dem Maße, wie sich ihre Fertigkeiten entwickelten, schufen sie größeren Reichtum, und ihr Einfluß wuchs. Die „Bürger“, der „Bourgeois“, der „Mittelstand“, begann sich als Klasse innerhalb der feudalen Gesellschaft des Mittelalters zu entwickeln. Aber sie kamen auf ganz andere Weise zu ihrem Reichtum als die Feudalherren, die diese Gesellschaft beherrschten.
Ein Feudalherr lebte direkt von den landwirtschaftlichen Gütern, die seine Leibeigenen für ihn auf seinem Land herstellen mußten. Er benutzte seine persönliche Macht dazu, sie zur Arbeit zu zwingen, für die er ihnen nichts zu bezahlen brauchte. Im Gegensatz dazu lebten die wohlhabenderen Klassen in den Städten vom Gewinn, den sie beim Verkauf von nicht-landwirtschaftlichen Gütern erzielten. An die Arbeiter, die diese Güter herstellten, zahlten sie Lohn, entweder pro Stück oder pro Tag oder Woche.
Diese Arbeiter, bei denen es sich oft um entflohene Leibeigene handelte, waren „frei“ zu kommen und zu gehen, wann sie wollten nachdem sie die Arbeit, für die sie bezahlt worden waren, gemacht hatten. Für diese Arbeiter bestand der „einzige“ Zwang zu arbeiten darin, daß sie ohne Anstellung verhungert wären. Die Reichen konnten nur deshalb reicher werden, weil die „freien“ Arbeiter sich mit weniger Geld für ihre Arbeit zufrieden gaben, als die Güter wert waren, die sie herstellten.
Wir werden diesen Punkt an anderer Stelle noch einmal ausführlich aufgreifen. Zunächst gilt es festzustellen, daß der mittelständische Bürger und der Feudalherr ihren Reichtum aus ganz verschiedenen Quellen bezogen. Das führte zu gegensätzlichen Ansichten darüber, wie die Gesellschaft organisiert sein sollte.
Der Feudalherr hatte ein Gesellschaftsbild zum Ideal, in dem er innerhalb seiner Ländereien absolute Macht besaß, uneingeschränkt etwa durch geschriebene Gesetze, ohne Einmischung irgendwelcher äußerer Mächte und ohne Fluchtmöglichkeiten für seine Leibeigenen. Er wollte, daß alles so blieb wie zu Zeiten seiner Väter und Vorväter, und ein jeder sollte mit dem Platz zufrieden sein, für den er von Geburt her bestimmt war.
Der neureiche Bourgeois sah natürlich alles ganz anders. Er wollte eine klare Beschränkung der Macht der Könige und Fürsten, damit diese sich nicht in seine Geschäfte einmischen oder gar seinen Reichtum rauben konnten. Er träumte davon, das durch unumstößliche geschriebene Gesetze zu erreichen, entworfen und verabschiedet von selbstgewählten Vertretern. Er wollte die ärmeren Volksklassen von der Leibeigenschaft befreien, damit diese in den Städten arbeiten konnten, um den Profit der Bürger zu vermehren.
Und sie selbst wollten nicht weiter wie ihre Väter und Großväter unter der Willkür der Feudalherren leben. Damit sollte endlich Schluß sein.
Mit einem Wort: sie wollten die Gesellschaft revolutionieren. Zusammenstöße mit der alten Gesellschaft gab es nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet, sondern ebenso auf politischem und ideologischem. Die ideologische Auseinandersetzung war vor allem religiöser Art. In einer ungebildeten Gesellschaft, die noch keine Natur- und Geisteswissenschaft kannte, war die Kirche die Hauptquelle aller Ideen über die Gesellschaft.
Da die mittelalterliche Kirche von Bischöfen und Äbten geführt wurde, die selber Feudalherren waren, lehrte sie auch Ansichten, die die Herrschaft des Feudalismus rechtfertigten und verurteilte viele Handlungen der städtischen Bourgeoisie als „sündig“.
Deshalb wandte die Bourgeoisie sich im 16. und 17. Jahrhundert in Deutschland, Holland, England und Frankreich einer Religion zu, die ihren Interessen entsprach: dem Protestantismus – eine religiöse Ideologie, die Sparsamkeit, Mäßigung, harte Arbeit (vor allem für die Arbeiter!) und Unabhängigkeit der bürgerlichen Gemeinden von der Macht der Bischöfe und Äbte predigte.
Das Bürgertum schuf sich einen Gott nach seinem Geschmack, im Gegensatz zum Gott des Mittelalters.
Die großen Religions- und Bürgerkriege jener Zeit werden in der Schule oder im Fernsehen immer so dargestellt, als wären sie nur wegen religiöser Meinungsunterschiede geführt worden, als hätten die Menschen wegen Differenzen über die Bedeutung von Fleisch und Blut Christus in der heiligen Kommunion gekämpft und ihr Leben geopfert. Es ging um viel mehr – um einen Zusammenstoß zwischen zwei vollständig verschiedenen Gesellschaftsformen, die sich auf zwei verschiedene Weisen der Produktion von Reichtum stützten.
In England gewann die Bourgeoisie diesen Krieg. Die bürgerlichen Truppen schlugen die des Königs, und der König wurde geköpft. Sie rechtfertigte das mit Sprüchen aus dem alten Testament.
Aber in anderen Ländern ging die erste Runde an die Feudalherren. In Frankreich und Deutschland wurden die protestantischen bürgerlichen Revolutionäre nach erbittertem Krieg vernichtet. In Deutschland geschah das in den großen Bauernkriegen nach 1524, in denen sich die Bauern und die Städte gegen die Feudalherren und ihre katholische Kirche erhoben hatten. Was übrigblieb, war eine feudale Spielart des Protestantismus, die ihre Verbreitung vorwiegend in Norddeutschland hatte. Die Bourgeoisie mußte in den Ländern Kontinentaleuropas zwei weitere Jahrhunderte warten, bis sie schließlich in einer zweiten Runde erfolgreich war. Diese zweite Runde der bürgerlichen Revolutionen begann ohne religiöse Verkleidung im Jahr 1789 in Paris.
In den Sklaven- und Feudalgesellschaften brauchten die oberen Klassen eine rechtlich gesicherte Verfügungsgewalt über die Masse der arbeitenden Bevölkerung. Die Arbeitskräfte wären ihnen sonst davongelaufen und die herrschende Klasse hätte die Arbeit selber machen müssen.
Aber der Kapitalist braucht normalerweise solche rechtlichen Kontrollen über die Person des Arbeiters nicht. Er braucht ihn nicht zu besitzen. Statt dessen besitzt und kontrolliert der Kapitalist die Lebensquelle der Arbeiter: die Maschinen und Fabriken.
Die Lebensmittel werden durch menschliche Arbeit hergestellt. Aber diese Arbeit ist fast nutzlos ohne Werkzeuge zur Bearbeitung des Bodens und Verarbeitung natürlicher Rohstoffe. Die Werkzeuge mögen sehr unterschiedlich sein – angefangen mit einfachen landwirtschaftlichen Geräten wie Pflügen oder Hacken bis hin zu den modernsten und kompliziertesten Maschinen, wie sie heute in automatisierten Fabriken Anwendung finden. Aber ohne diese Werkzeuge ist selbst der am besten ausgebildete Arbeiter unfähig, die Lebensmittel herzustellen, die für das Weiterleben des menschlichen Körpers unentbehrlich sind.
Gerade die Weiterentwicklung solcher Werkzeuge – Marx nannte sie Produktionsmittel – trennt die moderne Menschheit von ihren entfernten Vorfahren im Steinzeitalter.
Der Kapitalismus beruht auf dem Besitz der Produktionsmittel durch wenige Menschen. In Deutschland besitzen heute beispielsweise zwei Prozent der Bevölkerung 70 Prozent des Volkseigentums.
Ein paar tausend Menschen kontrollieren den allergrößten Teil der Produktionsmittel: die Maschinen, die Fabriken, die Bergwerke und Ölfelder und große Teile des Grund und Bodens. Die Masse der Bevölkerung kann sich ihren Lebensunterhalt nur verdienen, wenn die Kapitalisten ihnen erlauben zu arbeiten – mit und an diesen Produktionsmitteln. Das gibt den Kapitalisten riesige Möglichkeiten, die Arbeit von anderen Menschen auszubeuten – obwohl laut Gesetz „alle Menschen gleich“ sind.
Es dauerte ein paar Jahrhunderte, bis die Kapitalisten ihr Monopol über die Produktionsmittel aufgebaut hatten. Im ersten Industrieland der Welt, in England, verabschiedete das Parlament im 17. und 18. Jahrhundert eine Reihe von „Einfriedungsgesetzen“, durch die die Bauern von ihrem Land vertrieben und somit auch von ihren eigenen Produktionsmitteln getrennt wurden. Das Land, das zuvor über Jahrhunderte den Bauern gehört hatte, ging nun in den Besitz eines Teils der herrschenden Kapitalistenklasse über. Die Masse der ländlichen Bevölkerung sah sich nun plötzlich gezwungen, ihre Arbeit an die Kapitalisten zu verkaufen oder zu verhungern.
Nachdem die Kapitalisten einmal das Monopol über die Produktionsmittel gewonnen hatten, konnten sie nun das Risiko eingehen, den eigentumslosen Bevölkerungsmassen scheinbar die gleichen Freiheiten und politischen Rechte zu gewähren, die auch für sie galten.
Bürgerliche Wirtschaftswissenschaften haben eine einfache Erklärung für das, was nun geschieht. Sie sagen, daß der Kapitalist, indem er Löhne ausbezahlt, sich die Arbeitskraft der Arbeiter kauft. Er muß ihnen einen fairen Preis dafür bezahlen. Sonst wird der Arbeiter die Arbeit aufgeben und für jemand anderen arbeiten. Der Kapitalist gibt einen „angemessenen Lohn“ für den Arbeitstag oder die Arbeitswoche. Dafür sollten die Arbeiter dann auch eine angemessene „entsprechende“ Arbeitsleistung hergeben.
Wie erklären sie sich nun den Profit? Sie sagen, daß der Profit eine „Belohnung“ für die Kapitalisten dafür ist, daß ihre Produktionsmittel (ihr Kapital) benutzt werden. Dieses Argument kann kaum einen Arbeiter, der zweimal nachdenkt, überzeugen.
Nehmen wir zum Beispiel ein Unternehmen, das mit einem Nettoprofit von 10 Prozent rechnet. Das würde bedeuten, daß der Unternehmer bei einem Gesamtwert seiner Maschinen, Fabriken und sonstigen Anlagen in Höhe von 100 Millionen Mark, nach Abzug aller Kosten wie Löhne, Rohstoffe und Abschreibungen für den Verschleiß von Maschinen, 10 Millionen Mark Gewinn übrig hat.
Man braucht kein Genie zu sein, um zu bemerken, daß das Unternehmen nach 10 Jahren einen Gesamtprofit von 100 Millionen Mark gemacht haben wird – das sind die vollen Kosten der ursprünglichen Investitionen.
Wenn es darum ginge, daß die Unternehmer für den Einsatz ihrer Maschinen nur entschädigt werden sollen, dann müßten nach 10 Jahren alle Profite enden. Denn dann hätte der Kapitalist bei unserem Beispiel seinen ursprünglichen Einsatz an Geld zurückerhalten. Tatsächlich ist der Kapitalist nun aber doppelt so reich wie vorher. Er besitzt seine anfänglichen Investitionen und die angehäuften Profite.
Der Arbeiter hat in der Zwischenzeit den größten Teil seiner Lebensenergie dazu verbraucht, 8 Stunden am Tag, 48 Wochen im Jahr in der Fabrik zu arbeiten. Geht es ihm nun nach den 10 Jahren doppelt so gut wie zu Beginn? Mit Sicherheit nicht. Selbst wenn er eifrig spart, wird er sich nicht viel mehr leisten können als einen Farbfernseher, ein Auto, eine Wohnung mit Zentralheizung und eine Waschmaschine. Er wird nie genug Geld verdienen, um sich die Fabrik zu kaufen, in der er arbeitet.
Der Tausch von „angemessener Arbeitsleistung gegen einen angemessenen Lohn“ hat das Kapital des Kapitalisten vermehrt, den Arbeiter jedoch in etwa der gleichen Lage gelassen wie vorher: er muß immer noch gegen Lohn seine Arbeitskraft verkaufen, wenn er leben will. Die „gleichen Rechte“ von Kapitalisten und Arbeitern haben die Ungleichheit vergrößert.
Eine der großen Entdeckungen von Karl Marx war die Erklärung dieser offensichtlichen Ungereimtheit. Es gibt keinen zwingenden Grund dafür, daß der Kapitalist seinem Arbeiter den vollen Wert seiner Arbeit ausbezahlt. Ein Arbeiter in der Metallindustrie schafft pro Monat vielleicht Werte in Höhe von 5.000 Mark. Aber das heißt nicht, daß er die auch ausbezahlt bekommt. In 99 von 100 Fällen wird er wesentlich weniger bekommen.
Der Arbeiter hat nur die Alternative, zu hungern oder von den elenden Sätzen der Sozialhilfe zu leben. Die Forderungen der Arbeiter bei Lohnverhandlungen gehen nicht dahin, den vollen Wert ihrer Arbeit zu erhalten, sondern gerade genug für einen mehr oder weniger angenehmen Lebensstandard zu bekommen. Der Arbeiter erhält dabei gerade so viel Lohn, daß er sich gezwungen sieht, alle seine Anstrengungen (oder wie Marx es nannte: Arbeitskraft) in den täglichen Dienst des Kapitalisten zu stellen.
Vom Standpunkt des Kapitalisten ist ein „angemessener Lohn“ so viel, wie der Arbeiter braucht, um sich für die Arbeit fit zu halten und dazu Kinder für eine neue Generation von Arbeitern aufzuziehen. Aber die Wertsumme, die nötig ist, um die Arbeiter für die Arbeit fit zu erhalten, ist beträchtlich geringer als die Wertsumme, die von den Arbeitern im Arbeitsprozeß geschaffen wird.
Oder anders ausgedrückt: Der Wert ihrer Arbeitskraft ist wesentlich geringer als der Wert ihrer Arbeitsprodukte.
Die Differenz wandert in die Taschen des Kapitalisten. Marx nannte das den Mehrwert.
Wenn man die Schriften der Anhänger des heutigen Systems liest, dann fällt rasch auf, daß sie einem merkwürdigen Glauben anhängen. Geld hat ihnen zufolge eine wunderbare Eigenschaft. Es kann wie eine Pflanze oder ein Tier wachsen.
Wenn ein Kapitalist sein Geld bei einer Bank anlegt, dann erwartet er, daß es sich vermehrt. Wenn er in Aktien der Höchst AG oder Daimler investiert, dann erwartet er, daß Geld durch Dividendenausschüttungen jedes Jahr „Junge bekommt“. Karl Marx hat diesen Tatbestand beobachtet, er nannte das die Selbstverwertung des Kapitals und fand eine Erklärung dafür.
Wie wir bereits darstellten, ging Marx nicht vom Geld aus, sondern von der Arbeit und den Produktionsmitteln. In der heutigen Gesellschaft können die Reichen die Produktionsmittel kaufen und kontrollieren. Sie können dann alle anderen zwingen, ihre Arbeit an sie zu verkaufen, um so die Produktionsmittel benutzen zu können.
Das Geheimnis der „Selbstverwertung des Kapitals“, der wundersamen Vermehrung des Geldes all jener, die genug davon besitzen, liegt im Ankauf und Verkauf von Arbeit.
Nehmen wir als Beispiel den Arbeiter Franz, der eine Stelle bei der Unternehmerin Erika Mustermann findet. Die Arbeit, die Franz in acht Stunden leisten kann, schafft zusätzlichen Reichtum in Höhe von vielleicht 150 Mark. Aber Franz ist durchaus gewillt, für weniger als 150 Mark zu arbeiten, weil er von der Sozialhilfe, die er sonst beziehen müßte, nicht leben und nicht sterben kann. Denn unsere Regierung sorgt dafür, daß der Regelsatz der Sozialhilfe 10 Mark pro Tag nicht übersteigt. Sie begründet das damit, daß ein höherer Sozialhilfesatz den „Anreiz zur Arbeit“ untergraben würde.
Wenn Franz mehr als 10 Mark pro Tag haben will, muß er seine Fähigkeit zu arbeiten verkaufen, seine Arbeitskraft, selbst wenn ihm dafür wesentlich weniger geboten wird als die 150 Mark, die er in 8 Stunden an Werten schaffen kann. Er ist bereit, für einen Durchschnittslohn von vielleicht 70 Mark pro Tag zu arbeiten. Die Differenz von 80 Mark geht in die Tasche von Frau Mustermann. Es ist Frau Mustermanns Mehrwert.
Weil Frau Mustermann schon zu Beginn über genügend Geld verfügte, um sich die Kontrolle der Produktionsmittel zu erkaufen, kann sie nun pro Tag um 80 Mark reicher werden durch jeden Arbeiter, den sie beschäftigt. Ihr Geld wird mehr und mehr, ihr Kapital wächst, nicht nach einem Naturgesetz, sondern allein deshalb, weil sie über Produktionsmittel verfügt und sich auf diese Weise billig die Arbeit anderer beschaffen kann.
Natürlich kann Frau Mustermann die 80 Mark nicht ganz für sich behalten. Es kann sein, daß sie für die Fabrik oder für Grundstücke Miete bezahlen muß; es kann auch sein, daß sie einen Teil ihres ursprünglichen Reichtums von einem anderen Mitglied der herrschenden Klasse geliehen hat. Das führt natürlich zu Abzügen von ihrem Mehrwert. Soll sie 40 Mark für Mieten, Zinsen und Dividenden abführen, so bleiben ihr „nur“ 40 Mark Gewinn übrig.
Diejenigen, die von den Zinsen und Mieten leben, haben Franz wahrscheinlich nie in ihrem Leben gesehen. Trotzdem war es nicht die „wunderbare Allmacht“ der Geldscheine, aus der sie ihre Einkommen bezogen, sondern aus dem nur allzu wirklichen Schweiß von Franz. Die Mieten, Zinsen und Dividenden wurden alle vom Mehrwert abgezwackt.
Was bestimmt nun aber die Höhe des Lohns von Franz? Der Unternehmer wird versuchen, ihm so wenig wie möglich zu geben. Aber es gibt in der Realität Grenzen, unter die er nicht gehen kann. Einige dieser Grenzen sind körperlicher Art – so wäre es sicher nicht von Nutzen, wenn die Arbeiter so niedrige Löhne erhielten, daß sie, von Unterernährung geschwächt, unfähig wären, eine ausreichende Leistung am Arbeitsplatz zu erbringen. Sie müssen auch genügend Geld haben, um von zu Hause zum Arbeitsplatz und zurück zu fahren, um einen Ruheplatz für die Nacht zu haben, damit sie nicht über den Maschinen einschlafen.
Von diesem Standpunkt aus gesehen ist es sogar durchaus sinnvoll, wenn der Arbeiter etwas Geld für „kleine Luxusbedürfnisse“ erhält wie z. B. für ein paar Bierchen am Abend, einen Fernseher, eine gelegentliche Urlaubsreise.
Dies alles trägt zur Erholung des Arbeiters und zur Erhaltung seiner Arbeitsfähigkeit bei. Es ist eine wichtige Tatsache, daß die Arbeitsproduktivität fällt, wenn die Löhne „zu niedrig“ liegen.
Der Kapitalist muß sich auch noch um etwas anderes sorgen. Seine Firma wird noch lange nach dem Tod der jetzt beschäftigten Arbeiter im Geschäft sein. Sie wird dann auf die Arbeitskraft der Kinder angewiesen sein. Deshalb müssen die Kapitalisten den Arbeitern soviel zahlen, daß sie auch ihre Kinder ernähren können. Und sie müssen dafür sorgen, daß der Staat diesen Kindern eine gewisse Ausbildung gewährt (wie z. B. Lesen und Schreiben).
In der Wirklichkeit spielt aber auch noch die Vorstellung des Arbeiters eine Rolle, was denn ein „angemessener Lohn“ sei. Ein Arbeiter, der sehr viel weniger verdient, wird vielleicht bald seine Arbeit vernachlässigen und seine Arbeitsstelle riskieren, weil er den Eindruck hat, unterbezahlt zu sein.
Alle diese Punkte haben eines gemeinsam. Sie tragen dazu bei, die Lebensenergie des Arbeiters und damit seine Arbeitskraft zu erhalten, die der Kapitalist nach Stunden gezählt kauft. Die Arbeiter erhalten mit dem Lohn die Kosten, um sich und ihre Familien am Leben und für die Arbeit zu erhalten.
In der heutigen kapitalistischen Gesellschaft muß auch noch ein weiterer Punkt festgehalten werden. Riesige Mengen des Reichtums werden für Einrichtungen wie Polizeikräfte und Waffen ausgegeben. Diese werden vom Staat im Interesse der Kapitalisten eingesetzt. Ja, sie gehören der Kapitalistenklasse, obwohl sie vom Staat geführt werden. Der Wert, der für diese Einrichtungen ausgegeben wird, gehört den Kapitalisten, nicht den Arbeitern. Er ist ebenfalls ein Teil des Mehrwerts.
Der Mehrwert wird also in Gewinne, Mieten, Zinsen und Ausgaben für Polizei, Armee usw. aufgeteilt.
Zuletzt aktualisiert am 18. November 2021