Chris Harman

Das ist Marxismus


Geschichte verstehen


Ideen an sich können die Gesellschaft nicht verändern. Das war einer von Marx’ ersten Schlüssen. Wie schon eine Reihe von Denkern vor ihm, bestand er darauf, daß man, um die Geschichte zu verstehen, den Menschen als Teil der materiellen Welt sehen muß.

Menschliches Verhalten ist durch materielle Kräfte bestimmt, so wie das Verhalten aller anderen natürlichen Gegenstände und Erscheinungen auch. Die Erforschung der Menschheit war deshalb ein Teil der Erforschung der natürlichen Welt.

Die Materialisten bestreiten – im Gegensatz zu den Idealisten –, daß das Denken, die Ideen der Welt der Dinge (der Materie) und der Natur vorausgehen. Hunderttausende, Millionen von Jahren gab es auf der Erde keine Spuren lebendiger Wesen. Es gab folglich auch nicht das, was man Denken oder „Bewußtsein“ nennt. Die Natur, die Materie, gingen dem Bewußtsein, dem Geist, dem Denken voraus.

Deshalb nennen wir diese Art zu denken materialistisch, das heißt, von der Materie ausgehend (im Gegensatz zur idealistischen Denkweise, die von der Idee, meist von Gott als einem ewigen geistigen Wesen ausgeht).

Marx betrachtete den Materialismus als einen großen Schritt vorwärts gegenüber den verschiedenen religiösen und idealistischen Deutungen der Geschichte. Er bedeutete, daß man über die Veränderung der sozialen, gesellschaftlichen Verhältnisse wissenschaftlich diskutieren konnte, statt sich wie bisher auf das Gebet zu Gott zu verlassen oder auf bessere Einsichten bei den Menschen zu hoffen.
 

Die „Natur“ des Menschen

Die Ersetzung des Idealismus durch den Materialismus war die Ersetzung von Mystizismus durch Wissenschaft. Aber nicht alle materialistischen Erklärungen des menschlichen Verhaltens sind richtig. So wie es falsche Theorien in der Biologie, der Chemie, der Physik gegeben hat, so gab es Irrwege bei den Versuchen, wissenschaftliche Theorien der Gesellschaft zu entwickeln.

Hier ein paar Beispiele. Eine sehr verbreitete, nicht-marxistische, aber materialistische Ansicht ist die, daß die Menschen Tiere sind, die sich auf ihre Weise nur „natürlich“ verhalten können. So wie die Natur des Wolfs ihn dazu treibt, zu töten, oder das Schaf, „friedlich“ zu sein, so liege es in der Natur des Mannes, aggressiv, herrschsüchtig, neidisch und gierig zu sein (was umgekehrt einschließt, daß Frauen von Natur aus schwach, unterwürfig, passiv seien).

In der Psychologie gibt es mehrere Richtungen, die sogar das Verhalten von Ratten und Gänsen übertragen auf das Verhalten von Menschen. Die Schlüsse, die aus solchen Argumenten gezogen werden, sind zwangsläufig reaktionär. Wenn der Mensch von seiner Natur her aggressiv ist, dann ist es eigentlich sinnlos, davon zu sprechen, die Gesellschaft zu verbessern. Es kommt ja doch immer wieder dasselbe dabei ’raus. Revolutionen müssen immer fehlschlagen.

Aber die „menschliche Natur“ ändert sich von Gesellschaft zu Gesellschaft. Nehmen wir Konkurrenz, die heute als so selbstverständlich in unserer Gesellschaft erscheint. In anderen Gesellschaften war sie kaum bekannt. Als Wissenschaftler zum ersten Mal versuchten, die Sioux-Indianer auf ihre Intelligenz hin zu testen, konnten sie den Indianern nicht klarmachen, warum sie sich beim Beantworten der Fragen nicht gegenseitig unterstützen sollten. Die Gesellschaft, in der sie lebten, legte die Betonung auf Zusammenarbeit, nicht auf Konkurrenz.

Das gleiche gilt für die Aggressivität. Als Eskimos zum ersten Mal auf Europäer trafen, konnten sie in keiner Weise verstehen, wozu Kriege dienen sollten. Die Idee, daß eine Gruppe von Menschen versucht, eine andere auszulöschen, erschien ihnen verrückt.

In unserer Gesellschaft gilt es als „natürlich“, daß Eltern ihre Kinder lieben und beschützen. Aber in der griechischen Stadt des Altertums, Sparta, war es normal, daß Kinder in den Bergen ausgesetzt wurden, um zu prüfen, ob sie in der Kälte überleben würden.

Theorien von der „unveränderlichen menschlichen Natur“ geben keine Erklärung für die großen geschichtlichen Ereignisse. Die Menschen, die die Pyramiden der Ägypter bauten, die Weltreiche der Römer oder der Inkas, die modernen Industriestädte, werden alle auf eine Ebene gestellt mit der Lebensweise irgendwelcher unwissenden Bauern der frühen Menschheit, die noch in Lehmhütten wohnten. Das einzige, was übrigbleibt, ist die „menschliche Natur“, nicht die Zivilisation, die diese Menschen um sich aufgebaut haben. Wenn man den Menschen als „nackten Affen“ betrachtet, spielt es keine Rolle, daß es einerseits Gesellschaftsformen gibt, die ihre Menschen ernähren können, andere wiederum, in denen Millionen den Hungertod sterben.

Viele Menschen akzeptieren eine andere materialistische Theorie, die sich mit den Möglichkeiten der Veränderung menschlichen Verhaltens beschäftigt. So wie die Tiere dressiert werden können, sich im Zirkus anders zu verhalten als im Urwald, so kann – behaupten die Anhänger dieser Theorie – das menschliche Verhalten beeinflußt und verändert werden. Wenn nur die „richtigen“ Menschen unsere Gesellschaft kontrollierten, so heißt es, dann könnte die „Natur des Menschen“ weiterentwickelt werden.

Wenn alle Menschen unserer Gesellschaft heute vollständig konditioniert, d. h. von ihrer Umwelt geprägt sind, wie kann es da jemanden geben, der sich über die Gesellschaft erhebt, um die Konditionierungsregeln zu verändern? Gibt es eine gottbegnadete Minderheit von Menschen, die auf wunderbare Weise gegen die Zwänge, die alle übrigen Menschen beherrschen, geimpft sind? Wenn wir alle nur Tiere in einem Zirkus sind, wer ist dann der Löwenbändiger?

Die Anhänger dieser Theorie landen entweder wieder an dem gleichen Punkt wie jene Materialisten, die von der Unveränderlichkeit der Gesellschaft ausgehen, oder sie glauben, daß der Wandel durch irgendeine Kraft über der Gesellschaft bewirkt wird, wie z. B. Gott, ein „großer Mann“, oder die Macht der Ideen Einzelner. Ihr „Materialismus“ führt eine neue Art von Idealismus durch die Hintertür wieder ein.

Wie Marx schon aufzeigte, führen solche Lehren notwendig zu einer Aufteilung der Gesellschaft, wobei der eine Teil als „höherwertiger“ über der Gesellschaft steht.

Diese Art des Materialismus führt oft zu reaktionären Konsequenzen. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Lehre ist der rechte, konservative amerikanische Psychologe Skinner. Er möchte die Menschen abrichten, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten. Aber weil er selbst ein Produkt der amerikanischen, kapitalistischen Gesellschaft ist, heißt das nur, daß er versucht, sie an diese Gesellschaft anzupassen.

Eine andere materialistische Theorie führt sämtliches Elend dieser Welt auf die „Bevölkerungsexplosion“ zurück. Diese Theorien werden nach ihrem Begründer Malthus „malthusianisch“ genannt. Malthus war ein englischer Wirtschaftswissenschaftler des 18. Jahrhunderts. Seine Theorie erklärt aber nicht, warum in den USA Getreide verbrannt wird, während in lndien die Menschen verhungern. Sie kann auch nicht erklären, warum vor 150 Jahren in den USA die Nahrungsmittelproduktion nicht ausreichte, um 10 Millionen Menschen zu sättigen, während heute mehr als genug für 200 Millionen Menschen produziert wird.

Sie übergeht die Tatsache, daß jeder hungrige Mund gleichzeitig eine zusätzliche Person ist, die arbeiten und produzieren kann.

Marx nannte alle diese falschen Erklärungen „mechanischen“ oder „rohen“ Materialismus. Sie unterschlagen, daß die Menschen nicht nur ein Teil der materiellen Welt sind, sondern handelnde, lebendige Wesen, deren Handeln die Welt selbst verändert.
 

Die materialistische Geschichtsauffassung von Marx

„Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren.“

Mit diesen Worten beschrieb Karl Marx, worin er die Besonderheit seiner Erklärung der Entwicklung menschlicher Gesellschaften sah. Die Menschen sind ursprünglich Tiere, die von affenähnlichen Wesen abstammen. Wie bei anderen Tieren auch war ihre Hauptsorge, wie sie sich ernähren und vor dem Klima schützen können.

Bei den übrigen Tieren hängt dies von ihrem erblich festgelegten biologischen Aufbau ab. Ein Wolf erhält sich am Leben, indem er seine Beute nach biologisch vererbten, festgelegten Instinkten jagt und tötet. ln kalten Nächten schützt er sich vor dem Kältetod durch sein Fell. Ihren Nachwuchs zieht die Wolfsart ebenfalls nach biologisch festgelegten Verhaltensmustern hoch.

Aber menschliches Leben ist nicht in der gleichen Weise festgeschrieben. Die Menschen, die vor 100.000 oder 30.000 Jahren über die Erde zogen, lebten ganz anders als wir heute. Sie lebten in Höhlen und Erdlöchern. Sie besaßen keine Behälter, um Essen oder Wasser aufzubewahren. Sie erhielten sich am Leben, indem sie Beeren sammelten oder mit Steinen nach wilden Tieren jagten. Sie konnten weder schreiben noch zählen. Sie hatten kein genaues Wissen darüber, was in anderen Landesteilen vorging oder was ihre Vorväter getan hatten.

Aber ihr körperlicher Aufbau war vor 100.000 Jahren ähnlich dem der heutigen Menschen, vor 30.000 Jahren war er bereits genauso. Wenn man einen Höhlenmenschen von damals waschen, rasieren, ihm einen Anzug anziehen und die Hauptstraße entlanggehen lassen würde, käme niemand auf den Gedanken, daß er da nicht hingehörte. Der Archäologe Gordon Childe schrieb:

„Die ersten Skelette unserer eigenen Art stammen aus dem Ende der letzten Eiszeit ... Seit der Zeit, aus der die Skelette des ’Homo Sapiens’ stammen, das war vor etwa 25.000 Jahren, ist die körperliche Entwicklung des Menschen zum Stillstand gekommen, obwohl seine kulturelle Entwicklung eben erst begonnen hatte.“

Unter „Kultur“ versteht der Archäologe alle Dinge, die sich die Menschen gegenseitig beibringen und voneinander lernen (wie man aus Fell oder Wolle Kleider macht, wie man aus Ton Töpfe macht, wie man Feuer macht, wie man Häuser baut usw.), im Gegensatz zu all den Dingen, die die Tiere instinktiv können.

Das Leben der ersten Menschen unterschied sich sehr vom Leben anderer Tiere. Denn sie waren in der Lage, bestimmte körperliche Eigenschaften ihrer Art – das große Gehirn, Vorderbeine, die durch den aufrechten Gang für die Bearbeitung von Gegenständen frei wurden – zu benutzen, um die Umwelt ihren Bedürfnissen entsprechend zu verändern. Das bedeutet, daß die Menschen sich sehr verschiedenen Umweltbedingungen anpassen konnten, ohne irgendeine Veränderung ihres Körperbaus. Die Menschen reagierten nicht mehr nur auf ihre Umwelt. Sie konnten diese selbst beeinflussen und zu ihrem Vorteil verändern.

Zuerst benutzten sie Stöcke und Steine, um wilde Tiere anzugreifen, sie entzündeten Fackeln an natürlich vorkommenden Feuern, um sich mit Hitze und Licht zu versorgen, sie bedeckten sich mit Pflanzenfasern und Tierhäuten. Es mag Zehntausende von Jahren gedauert haben, bis allmählich die Menschen lernten, sich selbst Feuer zu machen, sich mit Hilfe von Steinen andere Steine zu formen, sich schließlich sogar Pflanzen mit Hilfe von selbst gesäten Samenkörnern zu ziehen und bestimmte Tiere zu zähmen.

Verglichen mit der Gesamtzeit menschlicher Geschichte von einer halben Million Jahre, dauerte es ziemlich lange, bis die Menschen vor nun etwa 5.000 Jahren es lernten, Erze in Metall zu schmelzen, das sie benutzten, um zuverlässige Werkzeuge und wirksame Waffen herzustellen. Jede dieser Entdeckungen machte es den Menschen wesentlich leichter, sich zu ernähren und sich zu kleiden. Und sie beeinflußten die Organisation des menschlichen Lebens selbst. Von Beginn an lebten die Menschen in Gesellschaft miteinander. Nur in gemeinsamer Anstrengung konnten Menschen wilde Tiere töten, die Nahrungsmittel zusammentragen und das Feuer am Leben halten. Sie waren auf Zusammenarbeit angewiesen.

Diese dauerhafte Zusammenarbeit führte auch zur Entwicklung neuer Formen der Verständigung untereinander, durch Lautäußerungen und durch die allmähliche Entwicklung von Sprache. Die ersten gesellschaftlichen Gruppen waren höchst einfach zusammengesetzt. Nirgends gab es genügend natürlich wachsende Lebensmittel, um Horden von mehr als zwei Dutzend Menschen zu ernähren. Sämtliche Kraft aller Hordenmitglieder mußte dazu verwandt werden, um die Hauptarbeit, die Besorgung von Nahrungsmitteln, zu erledigen. So machte jeder die gleiche Arbeit und lebte auf die gleiche Art und Weise.

Ohne die Möglichkeit der Aufbewahrung größerer Lebensmittelvorräte konnte es kein Privateigentum, also auch keine Klassenteilung geben, noch gab es einen Grund für Krieg mit anderen Horden, denn es war keine Beute zu machen.

Bis vor einigen wenigen Jahrhunderten gab es immer noch Hunderte von Gesellschaften in vielen Teilen der Welt, die nach diesem Muster zusammenlebten – einige Indianerstämme in Nord- und Südamerika, einige Völker Zentralafrikas und des Pazifischen Ozeans, die Ureinwohner Australiens (Aborigines).

Nicht, daß diese Völker weniger intelligent waren als wir oder eine „primitivere Seele“ gehabt hätten. Die Ureinwohner Australiens zum Beispiel mußten buchstäblich Tausende von Pflanzen und die Lebensgewohnheiten von einer Vielzahl von Tieren erkennen lernen, um überleben zu können.

Der Anthropologe Professor Firth beschrieb ihr Leben folgendermaßen:

„Die australischen Stämme ... kennen die Gewohnheiten, Fährten, Brutplätze und jahreszeitlichen Vorkommen sämtlicher eßbarer Tiere, Fische und Vögel ihres Jagdgebietes. Sie kennen die äußere und innere Beschaffenheit und Eigenschaften von Felsen, Steinarten, Wachssorten, Gummi, Pflanzen, Fasern und Rinden; sie wissen, wie man Feuer macht, sie wissen, wie man mit Hilfe von Hitze Schmerzen lindern, Blutungen stillen und das Verderben frischer Nahrungsmittel hinausziehen kann; und sie wissen auch, wie man mit Hilfe von Hitze bestimmte Holzarten härten und andere weicher machen kann ...

Sie wissen zumindest in groben Zügen von den Mondphasen, den Gezeiten, den Sternbewegungen und der Folge und Dauer der Jahreszeiten, sie setzen klimatische Veränderungen wie Windströmungen, jahreszeitlich bedingte Feuchtigkeit und Temperaturschwankungen in Verbindung mit dem Wachstum und Vorhandensein bestimmter natürlicher Arten ...

Darüber hinaus machen sie in intelligenter und sparsamer Weise Gebrauch von Nebenprodukten der Tiere, die zu Nahrungszwecken getötet wurden. Das Fleisch des Känguruhs wird gegessen, die Beinknochen werden zur Herstellung von Steinstühlen und als Nadeln verwandt, die Sehnen werden zum Wickeln von Speeren gebraucht, die Krallen werden zusammen mit Wachs und Fasern zu Halsketten verarbeitet, das Fett wird mit rotem Ocker zu Kosmetika vermischt, und aus Blut wird mit Holzkohle Farbe hergestellt ... Sie besitzen einiges Wissen über einfache mechanische Gesetze und formen den Bumerang wieder und wieder, bis er die richtige Biegung besitzt ...“

Sie waren wesentlich klüger als wir, was die Probleme des Überlebens in der australischen Wüste betrifft. Dagegen hatten sie nicht gelernt, wie man PfIanzen aussät und so selber Nahrungsmittel herstellen kann – eine Fähigkeit, die unsere Vorfahren erst vor 5.000 Jahren lernten, nachdem sie schon etwa hundertmal solange auf der Erde gelebt hatten.

Die Entwicklung neuer Techniken zur Herstellung gemeinsamen, gesellschaftlichen Reichtums, von Lebensmitteln im weitesten Sinn hat zur Entwicklung neuer Formen der Zusammenarbeit zwischen den Menschen geführt, zu neuen gesellschaftlichen Beziehungen.

Als zum Beispiel die Menschen lernten, ihre Lebensmittel herzustellen (durch den Anbau von Pflanzen und Herdenhaltung) und zu lagern (in Tongefäßen), war das eine Revolution des sozialen Lebens – von den Archäologen „die neolithische Revolution“ genannt. Die Menschen mußten jetzt zusammenarbeiten, um das Land zu bewirtschaften, die Ernte einzubringen und die Tiere zu jagen. Sie konnten in größeren Sippen zusammenleben, und mit anderen Siedlungen Lebensmittelvorräte tauschen.

Die ersten Städte konnten entstehen. Zum erstenmal konnten einige Menschen leben, ohne ständig mit der reinen Nahrungsmittelversorgung beschäftigt zu sein: einige spezialisierten sich auf die Herstellung von Tongefäßen, andere auf die Herstellung von Metallen für Werkzeuge und Waffen, wieder andere übernahmen Ordnungsaufgaben für die ganze Siedlung. Und: der Überschuß an Nahrung wurde zum Anlaß für Kriege.

Die Menschen hatten damit angefangen, sich ihre Umwelt mit anderen Mitteln nutzbar zu machen. Aber in diesem Prozeß hatten sie (ohne es zu beabsichtigen) die Gesellschaft, in der sie lebten, verändert und ihr eigenes Leben. Marx brachte das so auf den Punkt: Eine Entwicklung der Produktivkräfte veränderte die Produktionsverhältnisse und, durch sie, die Gesellschaft.

Es gibt viele, auch aktuellere Beispiele dafür:

Vor dreihundert Jahren lebte die große Mehrzahl der Menschen auf dem Land und stellte ihre Lebensmittel mit jahrhundertealten technischen Methoden her. Ihr Denken reichte bis zur Grenze des Dorfes und ihre Ideen waren vor allem vom Dorfpriester beeinflußt. Die große Mehrheit brauchte nicht lesen und schreiben zu können und lernte es auch nicht.

Dann setzte vor zweihundert Jahren die industrielle Entwicklung ein. Zehntausende von Menschen wurden in die Fabriken gezogen. Ihr Leben veränderte sich vollständig. Sie lebten in großen Städten statt in kleinen Dörfern, sie brauchten eine Ausbildung und mußten zunehmend Lesen und Schreiben lernen. Mit Eisenbahnen und Dampfschiffen wurde es möglich, um die halbe Erde zu reisen. Die alten Ideen, die die Priester den Menschen eingehämmert hatten, zogen nicht mehr. Die materielle Revolution in der Produktion revolutionierte auch das Leben und die Ideen der Menschen.

Selbst heute sind immer noch viele Menschen von ähnlichen Veränderungen betroffen. Zum Beispiel die Menschen aus den türkischen Dörfern, die Arbeit in den westdeutschen Fabriken suchen und beginnen, traditionelle Gebräuche und religiöse Vorstellungen über Bord zu werfen. Oder die große Zahl von Frauen, die in den letzten 50 Jahren außerhalb des Hauses Arbeit aufgenommen haben und anfingen, sich dagegen zu wehren, das Eigentum ihrer Ehemänner zu sein.

Neue Weisen der menschlichen Zusammenarbeit, um Nahrungsmittel, Bekleidung und Unterkünfte herzustellen, verändern die Organisation der Gesellschaft und die Ideen der Menschen. Das ist das Geheimnis sozialer Veränderungen – der Geschichte –, das die großen Denker vor Marx (und etliche nach ihm), die Idealisten und die mechanischen Materialisten nicht verstehen konnten.

Die Idealisten sahen, daß es Veränderung gab – aber für sie fielen sie vom Himmel. Die mechanischen Materialisten sahen, daß die Menschen durch die materielle Welt geformt wurden – aber sie begriffen nicht, wie es zu Veränderungen kommen könnte. Marx dagegen verstand, daß die Menschen einerseits bestimmt werden durch die Welt um sie herum, aber daß sie gleichzeitig auf diese Welt einwirken und dabei die Verhältnisse, in denen sie leben, verändern, also auch sich selbst.

Der Schlüssel dafür, Gesellschaftsveränderungen zu verstehen, liegt darin, zu begreifen, wie Menschen das Problem angehen, ihre Nahrung, Bekleidung und Behausung zu schaffen. Das war Marx’s Ausgangspunkt. Aber das heißt nicht, daß Marxisten glauben, daß technische Entwicklungen automatisch eine bessere Gesellschaft hervorbringen, oder daß Erfindungen automatisch zu einer Veränderung der Gesellschaft führen. Marx wies diese Auffassung klar zurück. Immer wieder in der Geschichte wurden neue Ideen zur Produktionssteigerung verworfen, weil sie den Vorstellungen oder der Art der bestehenden Gesellschaft widersprachen.

Zum Beispiel gab es im römischen Reich viele Ideen, wie der Ernteertrag zu steigern wäre. Aber sie wurden nicht aufgegriffen, weil sie eine größere Arbeitsdisziplin erforderten, die die Sklaven unter der Drohung der Peitsche nicht aufbringen konnten. Als die Engländer im 18. Jahrhundert Irland regierten, versuchten sie die Entwicklung der Industrie in Irland zu stoppen, weil sie mit den Interessen der Geschäftsleute in London kollidierte.

Neue Entwicklungen in der Produktion stellen die alten Vorstellungen und die alten Organisationsformen einer Gesellschaft in Frage, aber sie stürzen sie nicht automatisch. Viele Menschen kämpfen, um Veränderungen zu verhindern – und diejenigen, die die neuen Produktionsmethoden wollen, müssen für Veränderungen kämpfen. Gewinnen die ersten, werden die neuen Produktionsmethoden nicht angewandt und die Gesellschaft bleibt stehen oder entwickelt sich sogar zurück.

Oder in marxistischen Begriffen: wenn die Produktivkräfte sich entwickeln, stoßen sie zusammen mit den bestehenden sozialen Verhältnissen und Ideen, die auf der Grundlage der alten Produktivkräfte entstanden sind. Entweder gewinnen die Menschen bei diesem Zusammenprall, die sich mit den neuen Produktivkräften identifizieren, und die Gesellschaft kann sich weiterentwickeln, oder aber es bleibt alles im alten Trott – oder es geht zurück.


Zuletzt aktualisiert am 29.12.2011