Duncan Hallas

 

Was meinen wir mit ...?

Sektierertum

(1985)


Duncan Hallas, Sectarianism, Socialist Worker Review, April 1985.
Wiederveröffentlicht in der Sammlung What do we mean by ...?, SWP Education Pack, Nr. 6, März 1987.
Transkription: Internationale Sozialisten.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der Begriff Sektierertum wird so allgemein verwendet, daß wir ruhig damit anfangen können zu klären, was er nicht bedeutet. Es wird machmal behauptet, daß es sektiererisch ist, im Verlauf von verschiedenen Kämpfen zu versuchen, eine eigene Organisation aufzubauen. Dies ist Unsinn. Wenn man glaubt, daß die Politik der eigenen Organisation richtig oder wenigstens richtiger ist als die anderer Organisationen, möchte man natürlich, daß die eigene Organisation wächst und man versucht sie aufzubauen. Anderenfalls wäre man politisch nicht glaubhaft.

Natürlich kann dies manchmal in einer arroganten oder barschen Art und Weise geschehen (nicht oder wenigestens nur selten durch Mitglieder der SWP, so hoffe ich jedenfalls) aber das ist nicht sektiererisch, sondern dumm.

Sektierertum betrifft ausschließlich falsche Haltungen zum Klassenkampf.

Dadurch, daß Karl Marx und Friedrich Engels den Sozialismus zu einer Fusion mit der Arbeiterbewegung drängten – schrieb Lenin –, erwiesen sie ihm den größten Dienst: sie schufen eine revolutionäre Theorie, die die Notwendigkeit dieser Fusion erklärte und gaben Sozialisten die Aufgabe, den Klassenkampf des Proletariats zu organisieren. [1]

Fusion bedeutet in diesem Zusammenhang nicht die Auflösung einer revolutionären Organisation in eine nicht-revolutionäre. Lenin fühlte sich völlig dazu verpflichtet, eine revolutionäre Organisation aufzubauen und brach rücksichtslos mit denjenigen, die in dieser zentralen Frage unschlüssig waren; dazu gehörten auch viele seiner vorherigen Mitstreiter. Die Schlüsselworte sind „der Klassenkampf des Proletariats“. Damit müssen Sozialisten „fusionieren“.

Diese Vorstellung geht zurück auf das Kommunistische Manifest. Sektierer, waren für Marx und Engels, jene, die „Utopien“ schufen, abstrakte Schemata abgeleitet von angenommenen generellen Prinzipen, für die Menschen gewonnen werden sollten durch Überzeugung und gutem Beispiel – kooperative „sozialistische Inseln“ und ähnliches – im Gegensatz zur marxistischen Betonung auf „die wirkliche Bewegung“, dem tatsächlichen Klassenkampf. In diesem Geist schrieb Marx: „Die Sekte sieht die Berechtigung für ihre Existenz und ihren Stolz nicht in dem, was sie mit der Klassenbewegung gemeinsam hat, sondern in der besonderen Gepflogenheit, die sie von der Bewegung unterscheidet.(Hervorhebungen durch Marx)

Klassenbewegung ist wörtlich gemeint. Es ist nicht eine Frage, oder in erster Linie nicht, von dieser oder jener Institution der Arbeiterklasse, sondern von der Richtung der Entwicklung des tatsächlichen Klassenkampfes und der Entwicklung von Klassenbewußtsein. Marx war ein Revolutionär. Für ihn war die Revolution nicht eine „besondere Gepflogenheit“, sondern ein notwendiges Stadium im Kampf für Sozialismus, der wiederum nur auf dem Klassenkampf basieren kann. Unabhängig davon, wie er schrieb, „was dieser oder jener Proletarier oder sogar das ganze Proletariat gegenwärtig als sein Ziel betrachtet.“

Wie dem auch sei, Sektierertum ist nicht notwendigerweise durch die formale Anerkennung der zentralen Rolle, die der Klassenkampf spielt ausgeschlossen. Schon in den 1880ern machte sich Engels über immigrierte deutsche Marxisten in den USA lustig, die den Marxismus „in eine Art Dogma der „einzigen Rettung“ verdrehten und abseits jeder Bewegung blieben, die dieses Dogma nicht akzeptierte.“ Engels hatte die Knights of Labor im Hinterkopf, ein wichtiger, aber konfuser Versuch, die Arbeiterklasse zu organisieren. „Man sollte diese nicht“, so argumentierte er (ohne Erfolg, was die deutsch-amerikanischen Marxisten anging), „verächtlich von außen abtun, sondern von innen revolutionieren.“

Dieses Argument kann generell angewendet werden. In den frühen Jahren der Kommunistischen Internationale gab es eine große Anzahl von ernsthaften Revolutionären, hauptsächlich in Deutschland aber nicht nur dort, die gegen eine systematische Arbeit in den bestehenden Gewerkschaften waren. Ihr Argument war, daß diese Gewerkschaften bürokratisiert und konservativ waren, wenn nicht sogar reaktionär. Und dies stimmte weitestgehend auch. Andererseits ist aber auch wahr, daß diese Gewerkschaften Millionen Arbeiter organisierten und, wie stark bürokratisiert und reaktionär ihre Führung auch war, sie waren Klassenorganisationen die notwendigerweise eine Rolle (eine schlechte) im Klassenkampf spielen und nicht einfach ignoriert werden dürfen. Wie Lenin schrieb:

Wir führen den Kampf gegen die opportunistischen und sozialchauvinistischen Führer um die Arbeiterklasse für unsere Seite zu gewinnen. Es wäre absurd, diese elementarste und offensichtlichste Wahrheit zu vergessen. Genau das ist aber die Absurdität der deutschen „Linken“ Kommunisten, wenn sie durch den reaktionären und konterrevolutionären Charakter der oberen Gewerkschaftsbürokratie zu dem Schluß kommen, daß wir uns von den Gewerkschaften zurückziehen müssen, wir uns weigern müssen, in ihnen zu arbeiten und wir neue, künstliche Formen der Arbeiterorganisation aufbauen müssen! Dies ist ein so unverzeihlicher Fehler, daß es darauf hinausläuft, der größte Dienst zu sein, den Kommunisten der Bourgeoisie machen kann.

Der gemeinsame Faden zwischen diesem Fehler von (meist) aktiven und revolutionären „Linken“ und allen anderen Formen von Sektierertum ist das Unvermögen, zu den konkreten Kämpfen der Arbeiter Verbindung zu finden, wie schwer dies auch immer sein mag und alternativ utopische Schemata aufzustellen.

Aus diesem Grunde haben die propagandistischen Formen des Sektierertums, obwohl sie auf den ersten Blick anders erscheinen, die gleiche Wurzel. Es gibt eine reichhaltige (wenn das das richtige Wort dafür sein kann) Erfahrung hiermit in Britannien. Wir können sie die „reinen Ausgewählten“ Sektierer nennen, um einen Vers des verstorbenen Tommy Jackson über die Britische Sozialistische Arbeiterpartei (SLP) zu benutzen.

„Wir sind die reinen Auserwählten
Und die anderen sind verdammt
Für Euch gibt es in der Hölle genug Platz
Wie wollen keinen übervölkerten Himmel“

Die SLP, obwohl sie bei weitem nicht der schlimmste Fall war, setze eine exzessive Betonung auf Propaganda und einen sehr hohen Grad an formeller (marxistischer) Ausbildung als Mitgliedschaftsbedingung. Kaum überraschend, glaubte sie auch an getrennte „rote Gewerkschaften“ und verbot ihren Mitgliedern grundsätzlich, ein Amt in der Gewerkschaft zu bekleiden, obwohl ihnen die Mitgliedschaft erlaubt war, wenn eine Notwendigkeit (bei einem „closed shop“, einem Betrieb, wo alle Arbeiter Gewerkschaftsmitglieder werden mußte) dazu bestand.

Eine Besessenheit mit „hoch qualifizierten“ Mitgliedern, eine Angst vor „Verdünnung“ durch „rohe Arbeiter“ charakterisierte einige trotzkistische Gruppen (wenn auch nicht alle) und ihre Ableger. Warum ist diese Herangehensweise sektiererisch? Kommen wir wieder zum Klassenkampf als zentraler Frage zurück. Und diese Frage ist zweischneidig.

Jede Partei der Arbeiterklasse, jede Fraktion, durchwandert in ihren ersten Stadien eine Periode der puren Propaganda ... Die Existenzperiode als marxistischer Zirkel baut unweigerlich Angewohnheiten der abstrakten Herangehensweise der Arbeiterbewegung gegenüber ein. Wem auch immer es zur rechten Zeit nicht gelingt, über die Beschränkungen der beschriebenen Existenz hinauszugehen, wird zu einem konservativen Sektierer. Der Sektierer betrachtet das Leben als große Schule und sich selbst als Lehrer ... Obwohl er Eide auf den Marxismus schwört, erreicht der Sektierer mit jedem Satz eine direkte Negation des dialektischen Materialismus, der Erfahrung als Ausgangspunkt nimmt und immer wieder dorthin zurückkehrt ... Der Sektierer lebt in fertigen Formeln ... Disharmonie zur Realität erzeugt beim Sektierer die Notwendigkeit, seine Formel stets präziser vorzulegen. Dies firmiert unter dem Namen Diskussion. Für einen Marxisten ist Diskussion ein wichtiges aber funktionelles Instrument des Klassenkampfes. Für den Sektierer ist Diskussion das Ziel selbst. Wie dem auch sein, je mehr er diskutiert, desto mehr aktuelle Aufgaben entfliehen ihm. Er ist wie ein Mensch, der seinen Durst mit Salzwasser zu stillen versucht; je mehr er trinkt, desto durstiger wird er.

Glücklicherweise ist diese Form des Sektierertums weit weniger verbreitet, als noch vor einigen Jahren. Viele der damaligen Sektierer sind in der Labour Party aufgegangen.

Aber deutet nicht alles Gesagte darauf hin, daß Revolutionäre in der Labour Party intervenieren sollten und ihr, der Wirksamkeit halber beitreten sollten? Ist es nicht sektiererisch, wie Militant behauptet, außerhalb der Labour Party zu bleiben?

Sicherlich kann diese Frage nicht mit fertigen Formeln beantwortet werden. Die Essenz des Sektrierertums ist Abstentionismus, aus welchem Grund auch immer, vom tatsächlichen Klassenkampf. Findet der Klassenkampf teilweise oder hauptsächlich in oder durch die Labour Party statt? Offensichtlich findet der Klassenkampf nicht direkt in der Labour Party statt. Und sofern innerparteiliche Kämpfe Auswirkungen zeigen, müssen wir versuchen, diese zu beeinflussen – dadurch, daß wir die Linke kritisch, wo es sein muß, gegen die Rechte verteidigen.

Dennoch ist es nicht das gleiche zu sagen, die SWP müsse sich in der Labour Party auflösen (oder dies zum Schein zu tun, und gleichzeitig außerhalb eine eigene Organisation aufrecht zu erhalten). Es gibt drei Gründe, weshalb dies falsch wäre.

Erstens findet der hauptsächliche Kampf in den Betrieben statt und nebensächlich in den Gewerkschaften. Eine revolutionäre Organisation muß, falls irgend möglich, so organisiert sein, um in diesen Kämpfen am effektivsten – mit eigenen Publikationen und offener Präsenz – intervenieren zu können. Es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen Gewerkschaften, die sich auf der Basis von Berufen oder Industriezweigen organisieren und der Labour Party, die sich auf der Basis einer politischen Idee organisiert – dem Reformismus, den wir ablehnen. Und dies verbleibt so, wie reformistisch oder reaktionär die Gewerkschaftsführung auch sein mag. Aus diesem Grund träumte Lenin in dem vorher genannten Artikel nicht davon zu argumentieren, daß seine Anhänger der Sozialdemokratischen Partei beitreten sollten, obwohl die meisten Gewerkschaftsführer Sozialdemokraten waren.

Zweitens ist so, daß auch wenn der Kampf in den Betrieben an einem sehr niederigen Stand ist, wäre es sektiererisch, von jeglicher Beteiligung in den Gewerkschaften abzusehen. Auch an den tiefsten Punkten des Kampfes können sie eine organische, wenn auch entfernte Verbindung zum Klassenkampf bieten. Die Vorsteher der Labour Party können dies vergleichsweise nicht annähernd leisten.

Drittens, genau aus dem Blickwinkel der Beeinflussung des linken Flügels der Labour Party, haben revolutionäre Sozialisten einen viel besseren Ausgangspunkt in einer offenen Organisation, die für unsere politischen Ideen kämpft, weil wir uns nicht an Konflikten über Posten, der Auswahl der Kandidaten und ähnliches beteiligen müssen.

 

Anmerkung

1. Alle Zitate rückübersetzt aus dem Englischen.

 


Zuletzt aktualisiert am 14. Mai 2021