Hal Draper

 

Die zwei Seelen des Sozialismus

 

7. Die „revisionistische“ Fassade

EDUARD BERNSTEIN, DER THEORETIKER des sozialdemokratischen „Revisionismus“, erhielt seinen Anstoß durch den Fabianismus, der ihn während seines Londoner Exils stark beeinflusste. Er hat 1896 die reformistische Politik nicht erfunden, er wurde bloß zu ihrem theoretischen Sprecher. (Der Chef der Parteibürokratie bevorzugte weniger Theorie: „Man sagt es nicht, man tut es“, erklärte er Bernstein; womit er sagen wollte, dass die Politik der deutschen Sozialdemokratie schon lange des Marxismus beraubt war, noch bevor ihre Theoretiker diese Änderung reflektierten.)

Aber Bernstein „revidierte“ den Marxismus nicht. Seine Rolle bestand darin, ihn auszumerzen, während er vortäuschte, verdorrte Zweige abzutrennen. Die Fabier hatten es nicht nötig gehabt, sich über eine Täuschung Gedanken zu machen, aber in Deutschland war es nicht möglich, den Marxismus durch einen Frontalangriff zu zerstören. Die Rückkehr zum Sozialismus von oben („der alten Scheiße“) musste als „Modernisierung“, als „Revision“ dargestellt werden.

Im Wesentliche fand der „Revisionismus“, wie die Fabier, seinen Sozialismus in der unvermeidlichen Kollektivierung des Kapitalismus selbst; er betrachtete die Entwicklung zum Sozialismus als Summe der dem Kapitalismus innewohnenden kollektivistischen Tendenzen; er hoffte auf die „Selbstsozialisierung“ des Kapitalismus von oben durch die Einrichtungen des bestehenden Staats. Die Gleichung Verstaatlichung = Sozialismus ist nicht die Erfindung des Stalinismus; sie wurde von der fabianisch-revisionistischen staatssozialistischen Strömung innerhalb des sozialdemokratischen Reformismus systematisiert.

Die meisten heutigen Entdeckungen, die verkünden, der Sozialismus sei veraltet, weil der Kapitalismus nicht wirklich mehr bestehe, lassen sich schon bei Bernstein finden. Es sei „absurd“, die Weimarer Republik als kapitalistisch zu bezeichnen, erklärte er, wegen der von ihr ausgeübten Kontrolle über die Kapitalisten; dem „Bernsteinismus“ zufolge muss der Nazistaat noch antikapitalistischer gewesen sein, als er selbst propagierte ...

Die Umwandlung des Sozialismus in einen bürokratischen Kollektivismus ist schon in Bernsteins Angriff auf die Arbeiterdemokratie enthalten. Nachdem er die Idee der Arbeiterkontrolle über die Industrie scharf kritisiert, fährt er fort, die Demokratie neu zu definieren. Ist sie „Regieren durch das Volk“? Er lehnt dies ab zu Gunsten der negativen Definition: „Abwesenheit einer Klassenregierung“. Auf diese Weise wird gerade die Betonung der Arbeiterdemokratie als notwendige Bedingung für den Sozialismus auf den Müll geworfen, ebenso wirksam wie durch die klugen neuen Definitionen für Demokratie, die in den kommunistischen Akademien gängig sind. Sogar politische Freiheit und repräsentative Institutionen wurden wegdefiniert: Ein theoretisches Ergebnis, das umso beeindruckender ist, als Bernstein selbst nicht antidemokratisch war, wie Lassalle oder Shaw. Es ist die Theorie des Sozialismus von oben, die diese Formulierungen erfordert. Bernstein ist der führende sozialdemokratische Theoretiker nicht nur in Bezug auf die Gleichung Verstaatlichung = Sozialismus, sondern auch bei der Abkoppelung des Sozialismus von der Arbeiterdemokratie.

Es war deshalb passend, wenn Bernstein zu der Schlussfolgerung kam, Marx’ Feindseligkeit gegenüber dem Staat sei „anarchistisch“, und dass Lassalle Recht gehabt habe, im Staat den Initiator des Sozialismus zu sehen. „Die administrative Körperschaft in der absehbaren Zukunft kann sich vom heutigen Staat nur graduell unterscheiden“, schrieb Bernstein; das „Absterben des Staates“ sei nichts als Utopie, auch unter dem Sozialismus. Er hatte im Gegenteil einen sehr praktischen Nutzen – als zum Beispiel der nicht absterbende Kaiserstaat sich in das imperialistische Gerangel um Kolonien warf, sprach sich Bernstein prompt für den Kolonialismus und die „Bürde des weißen Mannes“ aus: „Es kann nur ein bedingtes Recht der Wilden auf das von ihnen bewohnte Land anerkannt werden; die höhere Zivilisation darf schließlich ein höheres Recht beanspruchen.“

Bernstein setzte seine eigene Vision des Weges zum Sozialismus gegen die von Marx: Marx’ Vision „ist das Bild eines Heeres. Es drängt vorwärts, durch Umwege, über Stock und Stein ... Schließlich gelangt es an den großen Abgrund. Auf der anderen Seite steht lockend das ersehnte Ziel – der Staat der Zukunft, der nur durch ein Meer zu erreichen ist, ein rotes Meer, wie einige gesagt haben“. Im Gegensatz dazu war Bernsteins Vision nicht rot, sondern rosa: Der Klassenkampf geht über in Harmonie, in dem Maße wie ein wohltätiger Staat sanft die Bourgeoisie in gute Bürokraten verwandelt. Auf diese Weise fand es nicht statt – als die bernsteinisierte Sozialdemokratie zuerst die revolutionäre Linke 1919 niederschoss und dann, indem sie die uneinsichtige Bourgeoisie und das Militär wieder als herrschende Macht einsetzte, dabei half, Deutschland den Händen der Faschisten auszuliefern.

Während Bernstein der Theoretiker der Gleichsetzung des bürokratischen Kollektivismus mit dem Sozialismus war, wurde seine linke Gegnerin innerhalb der deutschen Bewegung zur führenden Befürworterin eines revolutionär-demokratischen Sozialismus von unten in der Zweiten Internationale. Es war Rosa Luxemburg, die so nachdrücklich ihren Glauben und ihre Hoffnung mit dem spontanen Kampf einer freien Arbeiterklasse verband, dass die Mythenmacher für sie eine „Theorie der Spontaneität“ erfanden, die sie nie vertrat, eine Theorie, in der die „Spontaneität“ als Gegensatz zur „Führung“ dargestellt wird.

In ihrer eigenen Bewegung kämpfte sie hart gegen die „revolutionären“ Anhänger des Elitedenkens, welche die Theorie der Erziehungsdiktatur über die Arbeiter wieder entdeckten (in jeder Generation wird sie als der letzte Schrei wieder entdeckt), und musste betonen: „Ohne den bewussten Willen und ohne die bewusste Tätigkeit der Mehrheit des Proletariats kann es keinen Sozialismus geben ...“ – „Wir werden nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in ganz Deutschland ...“ Und ihre berühmte Maxime hieß: „Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermesslich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten ‚Zentralkomitees‘.“

Rosa Luxemburg gegen Eduard Bernstein: Das ist das deutsche Kapitel der Geschichte.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003