Hal Draper

 

Die zwei Seelen des Sozialismus

 

6. Das Modell der Fabier

HINTER DER GESTALT LASSALLES scheinen eine Reihe von „Sozialismen“ auf, die sich in eine interessante Richtung bewegen.

Die so genannten Kathedersozialisten (eine Strömung von Akademikern aus dem Establishment) vertrauten offener auf Bismarck, als Lassalle, aber ihre Vorstellung von Staatssozialismus war der seinigen nicht prinzipiell fremd. Nur dass Lassalle das riskante Unterfangen auf sich nahm, eine Massenbewegung von unten für diesen Zweck ins Leben zu rufen – riskant, weil sie ihm, einmal in Bewegung gesetzt, aus der Hand gleiten könnte, wie es tatsächlich mehrmals geschah. Bismarck selbst hatte keine Bedenken, seine paternalistische Wirtschaftspolitik als eine Art Sozialismus darzustellen, und Bücher wurden über den „monarchischen Sozialismus“, den „Bismarck’schen Sozialismus“ usw. geschrieben. Schauen wir weiter nach rechts, treffen wir auf den „Sozialismus“ von Friedrich List, eines Nazivorläufers, und auf diejenigen Kreise, wo eine antikapitalistische Form des Antisemitismus (Dühring, A. Wagner, usw.) einen Teil der Grundlagen für die Bewegung legte, die sich unter Adolf Hitler sozialistisch nannte.

Der Faden, der dieses ganze Spektrum über alle Differenzen hinweg verbindet, ist die Vorstellung von einem Sozialismus, der lediglich eine Entsprechung für das staatliche Eingreifen in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben ist. „Staat, greif zu!“, rief Lassalle – das ist der Sozialismus dieser Bande.

Deshalb hat Schumpeter auch Recht mit seiner Beobachtung, dass das britische Gegenstück zum deutschen Staatssozialismus der Fabianismus ist, der Sozialismus von Sidney Webb.

Die Fabier (genauer gesagt: die Webbier) sind in der Geschichte der sozialistischen Idee diejenige moderne sozialistische Strömung, die sich in vollständiger Loslösung vom Marxismus entwickelte, diejenige, die dem Marxismus am fremdesten ist. Sie ist fast chemisch reiner sozialdemokratischer Reformismus, besonders vor dem Aufstieg der Arbeiter- und der sozialistischen Bewegung in Großbritannien, die sie nicht wollte und zu deren Aufbau sie nicht beitrug (trotz eines weit verbreiteten gegenteiligen Mythos). Sie ist deshalb ein sehr wichtiger Prüfstein, anders als andere reformistische Strömungen, die dem Marxismus ihren Tribut zollten, indem sie einen Teil seiner Sprache benutzten und seinen Inhalt entstellten.

Die Fabier – bewusst mittelständisch in ihrer Zusammensetzung und in ihrer Anziehungskraft – waren nicht dafür, irgendeine Art von Massenbewegung aufzubauen und schon gar nicht eine Fabierbewegung. Sie sahen sich als kleine Elite von Experten, die in die bestehenden gesellschaftlichen Institutionen einsickern [3], die wirklichen Führer in allen Bereichen, Liberale wie Konservative, beeinflussen und die gesellschaftliche Entwicklung zu ihrem kollektivistischen Ziel mit „schrittweiser Unvermeidlichkeit“ leiten würden. Da ihr Sozialismuskonzept sich ausschließlich auf das staatliche Eingreifen (auf nationaler oder kommunaler Ebene) beschränkte, und da nach ihrer Theorie der Kapitalismus selbst sich täglich kollektivierte und diese Richtung einschlagen musste, bestand ihre Funktion lediglich darin, diesen Prozess zu beschleunigen. Die Fabiergesellschaft wurde 1884 gegründet, um den Lotsenfisch für einen Hai zu spielen: Zuerst war die Liberale Partei der Hai; aber als das „Einsickern“ des Liberalismus jämmerlich scheiterte und die Arbeiter schließlich ihre eigene Klassenorganisation gründeten trotz der Fabier, heftete der Lotsenfisch sich einfach an den neuen Partner.

Es gibt vielleicht keine andere sozialistische Tendenz, die so systematisch und auch bewusst ihre Theorie eines Sozialismus von oben ausarbeitete. Das Wesen dieser Bewegung wurde früh begriffen, obwohl es später durch die Verschmelzung des Fabianismus mit dem Körper des Reformismus der Labour Party verhüllt wurde. Der führende christliche Sozialist der Fabiergesellschaft griff Webb einmal als „bürokratischen Kollektivisten“ (wahrscheinlich das erste Mal, dass dieser Begriff benutzt wurde) an. Das seinerzeit sehr bekannte Buch von Hilaire Belloc aus dem Jahre 1912, The Servile State (übersetzt etwa: „Der unterwürfige Staat“ d. Übers.), war im Wesentlichen eine Reaktion auf diesen Webb-Typus, dessen „kollektivistisches Ideal“ grundsätzlich bürokratisch war. G.D.H. Cole erinnerte sich: „Damals liebten es die Webbs zu sagen, dass jeder aktive politische Mensch entweder ein ‚A‘ oder ein ‚B‘ sei – ein Anarchist oder ein Bürokrat – und sie seien ‚Bs8216; ...“

Diese Charakterisierung vermittelt kaum das volle Aroma des Webb’schen Kollektivismus, woraus der Fabianismus bestand. Er war durch und durch von oben leitend, technokratisch, elitär, autoritär, „planistisch“. Webb verwendete gern den Begriff des Strippenziehens als Synonym für Politik.

Eine Veröffentlichung der Fabier schrieb, sie wünschten sich, „die Jesuiten des Sozialismus“ zu sein. Ihr Evangelium hieß Ordnung und Effizienz. Das Volk, das gut behandelt werden sollte, könne nur von kompetenten Experten geführt werden. Klassenkampf, Revolution, Volksunruhen seien Wahnsinn. Im dem Buch Fabianism and the Empire wurde der Imperialismus gelobt und als Politik angenommen. Wenn die sozialistische Bewegung jemals ihren eigenen bürokratischen Kollektivismus entwickelt hat, dann war es dieser.

„Manche mögen glauben, dass Sozialismus im Wesentlichen eine Bewegung von unten, eine Klassenbewegung“ sei, schrieb ein Sprecher der Fabier, Sidney Ball, um den Leser von dieser Vorstellung zu befreien; aber Sozialisten „gehen jetzt das Problem vom Standpunkt der Wissenschaft statt dem des Volkes an; sie sind Theoretiker des Mittelstands“, prahlte er und fuhr dann fort zu erklären, es gebe „einen deutlichen Bruch zwischen dem Sozialismus der Straße und dem Sozialismus des Katheders“.

 

DAS NACHSPIEL IST AUCH BEKANNT, obwohl es oft beschönigt wird. Während der Fabianismus als besondere Strömung sich bis 1918 im größeren Strom des Reformismus der Labour Party auflöste, gingen die Führer der Fabier in eine andere Richtung. Sowohl Sidney und Beatrice Webb als auch Bernard Shaw – das führende Trio – wurden in den Dreißigerjahren zu prinzipientreuen Anhängern des stalinistischen Totalitarismus. Shaw, der meinte, der Sozialismus brauche einen Übermenschen, hatte noch früher mehr als einen gefunden. Der Reihe nach schloss er Mussolini und Hitler, die den Tölpeln den „Sozialismus“ geben würden, als wohlwollende Despoten in seine Arme, und er war nur deswegen enttäuscht, weil sie den Kapitalismus nicht wirklich abschafften. Nach einem Besuch in Russland 1931 enthüllte Shaw, das Stalin’sche Regime sei der Fabianismus in der Praxis. Die Webbs folgten ihm nach Moskau und entdeckten Gott. In ihrem Buch Soviet Communism: A New Civilization bewiesen sie (direkt aus Moskaus eigenen Dokumenten und Stalins eigenen Behauptungen, die sie mit großem Fleiß erforscht hatten), dass Russland die großartigste Demokratie der Welt sei; Stalin kein Diktator sei; die Gleichheit für alle herrsche; die Einparteiendiktatur notwendig sei; die Kommunistische Partei eine durch und durch demokratische Elite sei, die den Slawen und Mongolen (aber nicht den Engländern) die Zivilisation bringe; politische Demokratie sei im Westen sowieso gescheitert, und es gebe keinen Grund, warum politische Parteien in unserem Zeitalter überleben sollten ...

Sie unterstützten Stalin standhaft während der Moskauer Säuberungsprozesse und den Hitler-Stalin-Pakt ohne wahrnehmbare Bedenken und starben als Stalin-Anhänger, die unkritischer waren als heutige Mitglieder des Politbüros. Wie Shaw erklärt hat, hatten die Webbs nur Verachtung für die Russische Revolution selbst, aber „die Webbs warteten, bis die Zerstörung und der Ruin des Wandels beendet waren, seine Fehler behoben und der kommunistische Staat ordentlich eingeführt wurde.“ Das heißt, sie warteten, bis die revolutionären Massen in eine Zwangsjacke gesteckt und die Führer der Revolution entfernt worden waren, die effiziente Ruhe der Diktatur sich über den Schauplatz gelegt hatte, die Konterrevolution fest im Sattel saß; und dann kamen sie, um dies als Ideal zu verkünden.

War das wirklich ein riesiges Missverständnis, irgendein unbegreiflicher Schnitzer? Oder hatten sie nicht Recht zu denken, dass dies tatsächlich der „Sozialismus“ war, der ihrer Ideologie entsprach, auch wenn er etwas Blut kostete? Der Schwenk des Fabianismus von dem mittelständischen „Einsickern“ zum Stalinismus war das Schwingen einer Tür, die am Sozialismus von oben hing.

Wenn wir auf die Jahrzehnte vor der Jahrhundertwende, als der Fabianismus zur Welt kam, blicken, ragt eine andere Gestalt hervor, das genaue Gegenteil von Webb: die führende Persönlichkeit des revolutionären Sozialismus jener Zeit, der Dichter und Künstler William Morris, der in seinen späten Vierzigern zum Sozialisten und Marxisten wurde. Morris’ Schriften über den Sozialismus atmen aus jeder Pore den Geist des Sozialismus von unten, genau wie jede Zeile von Webb das genaue Gegenteil sagt. Das ist vielleicht am deutlichsten in seinen radikalen Angriffen gegen den Fabianismus (aus den richtigen Gründen); in seiner Abneigung gegen den „Marxismus“ der britischen Ausgabe von Lassalle, des diktatorischen H.M. Hyndman; in seiner Verurteilung des Staatssozialismus und in seinem Abscheu vor der bürokratisch-kollektivistischen Utopie Bellamys in dessen Buch Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887. (Letzteres veranlasste ihn zu der Bemerkung: „Wenn sie mich in ein Arbeiterregiment berufen würden, würde ich mich einfach auf den Rücken legen und um mich treten.“)

Morris sozialistische Schriften sind in jeder Hinsicht durchdrungen von seiner Betonung des Klassenkampfes von unten in der Gegenwart; und was die sozialistische Zukunft betrifft, schrieb er sein Buch Kunde von Nirgendwo oder Ein Zeitalter der Ruhe als direktes Gegenargument zu Bellamys Buch. Er warnte davor:

... dass einzelne Menschen nicht das Geschäft des Lebens auf die Schulter einer Abstraktion namens Staat abwälzen können, sondern mit ihm in einer bewussten Verbindung miteinander zurechtkommen müssen ... Die Vielfalt des Lebens ist ebenso sehr ein Ziel des wahren Kommunismus wie die Gleichheit der Zustände, und ... nichts außer einer Vereinigung dieser beiden wird die wahre Freiheit hervorbringen.

„Sogar einige Sozialisten“, schrieb er, „neigen dazu, den kooperativen Apparat, zu dem das moderne Leben tendiert, mit dem Wesen des Sozialismus selbst zu verwechseln.“ Damit bestünde „die Gefahr, dass die Gemeinschaft zur Bürokratie verkommen“ könnte. Deshalb außerte er Furcht vor einer zukünftigen „kollektivistischen Bürokratie“. Als heftige Reaktion gegen den Staatssozialismus und den Reformismus fiel er in einen Antiparlamentarismus zurück, aber nicht in die anarchistische Falle:

... die Menschen werden sich in der Verwaltung zusammenschließen müssen, und manchmal wird es Meinungsverschiedenheiten geben ... Was ist zu tun? Welche Partei soll nachgeben? Unsere anarchistischen Freunde sagen, die Entscheidungen müssten nicht von einer Mehrheit getroffen werden; in diesem Fall müssen sie von einer Minderheit getroffen werden. Und warum? Gibt es irgendein göttliches Recht für eine Minderheit?

Das führt weit tiefer zum Kern des Anarchismus als die allgemeine Meinung, das Problem mit dem Anarchismus bestehe darin, dass er zu idealistisch sei.

William Morris gegen Sidney Webb: Das ist eine Möglichkeit, die Geschichte zusammenzufassen.

 

Anmerkung

3. Etwa vergleichbar dem "Marsch durch die Institutionen", den Teile der Achtundsechziger-Bewegung in Deutschland später zur Strategie erhoben. [d.Übers.]

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003