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Rosa Luxemburg mußte, als Führerin einer Arbeiterpartei in Polen, einem zwischen drei Imperien – Rußland, Deutschland und Österreich – geteilten Land notwendigerweise zur nationalen Frage eindeutig Stellung beziehen. Sie hielt an den – zum ersten Male 1896 – in ihrer ersten wissenschaftlichen Arbeit über Die industrielle Entwicklung Polens [1] formulierten Position bis zum Ende ihres Lebens fest, trotz der scharfen Auseinandersetzungen, die sie mit Lenin in dieser Frage hatte. Ihre Haltung entsprach zugleich einer Fortführung als auch einem Abweichen von der Marx-Engels’schen sie richtig zu verstehen, muß man zunächst deren Position skizzieren.
Marx und Engels lebten während des Aufstiegs des Kapitalismus in Europa, in einer Epoche bürgerlich-demokratischer Revolutionen. Der Rahmen der bürgerlichen Demokratie war der Nationalstaat, und Pflicht der Sozialisten war es nach Marx und Engels, „... gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei zu kämpfen.“ [2]
Als größten Feind aller demokratischen Revolutionen bezeichneten sie 1848 das zaristische Rußland und an zweite Stelle setzten sie Österreich. Rußland, der Unterdrücker Polens, war in erster Linie für die blutige Niederschlagung der demokratischen Revolution Kossuths in Ungarn 1849 verantwortlich; Rußland und Österreich verhinderten gemeinsam – durch direkte und indirekte Einmischung in die inneren Angelegenheiten Deutschlands und Italiens – die völlige nationale Einigung beider Länder. Marx und Engels unterstützten konsequent alle nationalen Bewegungen, die sich gegen den Zaren und die Habsburger richteten. Gleichzeitig wandten sie sich nach demselben Kriterium gegen solche nationalen Bewegungen, die objektiv dem Zaren oder den Habsburgern in die Hände spielten.
Die Unabhängigkeit Polens hätte nach Marx und Engels ungeheure revolutionäre Auswirkungen gehabt. Erstens wäre eine Mauer zwischen dem demokratischen revolutionären West- und Mitteleuropa und dem „Gendarm Europas“ aufgerichtet worden. Zweitens wäre das habsburgische Kaiserreich, durch eine nationale Erhebung der Polen erschüttert, nach Aufständen anderer Nationalitäten zusammengebrochen; alle Nationen dieses Kaiserreichs wären dann unabhängig gewesen und die Deutschösterreicher hätten sich mit dem restlichen Deutschland vereinen können; das wäre die beste demokratisch-revolutionäre Lösung der deutschen Frage gewesen. Drittens hätte die Unabhängigkeit Polens den preußischen Junkern einen schweren Schlag versetzt und damit die demokratisch-revolutionären Tendenzen in Gesamtdeutschland weiter verstärkt.
Marx und Engels riefen alle demokratischen Bewegungen Europas auf, dem zaristischen Rußland, dem Hauptfeind jeden Fortschritts, den Krieg zu erklären. Insbesondere riefen sie das revolutionäre Deutschland auf, für die Befreiung Polens zu den Waffen zu greifen. Ein demokratischer Krieg gegen den Zarismus würde die nationale Unabhängigkeit Polens und Deutschlands sichern, den Sturz des Absolutismus in Rußland beschleunigen und den revolutionären Kräften ganz Europas Auftrieb geben.
Während Marx und Engels die polnische und ungarische (magyarische) nationale Bewegung unterstützten, taten sie es in anderen Fällen nicht. So verurteilten sie zum Beispiel während der Revolution von 1848 die nationalen Bewegungen der Südslawen – der Kroaten, Serben und Tschechen –, weil sie glaubten, diese Bewegungen hülfen objektiv dem Hauptfeind; kroatische Truppen, die die Magyaren mehr als das habsburgische Kaiserreich haßten, unterstützten die zaristischen Truppen bei ihrem Einmarsch in Ungarn; tschechische Truppen halfen bei der Unterdrückung des revolutionären Wiens.
In allen Kriegen, an denen das zaristische Rußland beteiligt war, nahmen Marx und Engels weder eine neutrale noch eine beiden Lagern gegenüber feindliche Haltung ein, sondern stellten sich in militanter Opposition nur gegen Rußland. So kritisierten sie die englische und die französische Regierung während des Krimkrieges, weil diese den Krieg gegen Rußland nicht konsequent bis zum bitteren Ende führten. Auch im russisch-türkischen Krieg, der 1877 ausbrach, unterstützte Marx die „braven Türken“. [3] Bis zum Ende ihres Lebens war das zaristische Rußland für Marx und Engels die wichtigste Bastion der Reaktion, und Krieg gegen Rußland war eine revolutionäre Pflicht.
Wegen des Kriteriums, das sie zur Beurteilung nationaler Bewegungen heranzogen – ihre Wirkung auf die bürgerlich-demokratische Revolution in West- und Mitteleuropa – beschränkten Marx und Engels ihre Überlegungen zur nationalen Frage natürlich auf Europa (und Nordamerika), wo die kapitalistische Entwicklung mehr oder weniger fortgeschritten war. Das Konzept des bürgerlich revolutionären Nationalismus übertrugen sie (was damals gerechtfertigt war) nicht auf asiatische, afrikanische oder südamerikanische Länder. So schrieb Engels zum Beispiel:
Meiner Ansicht nach werden die eigentlichen Kolonien, d.h. die von europäischer Bevölkerung besetzten Länder, Kanada, Kap, Australien, alle selbständig werden; dagegen die bloß beherrschten, von Eingeborenen bewohnten Länder, Indien, Algier, die holländischen, portugiesischen und spanischen Besitzungen, vom Proletariat vorläufig übernommen werden, und so rasch wie möglich der Selbständigkeit entgegengeführt werden müssen. [4]
Er hielt es für möglich, daß Indien durch eine Revolution sich selbst befreien könne, aber er glaubte, ein solches Ereignis wäre nur von zweitrangiger Bedeutung für Europa. Wenn Indien sich selbst befreien sollte, werde man es, „da das sich befreiende Proletariat keine Kolonialkriege führen kann ... gewähren lassen müssen ...“ [5]
Aber die Vorstellung, daß die Emanzipation der Kolonien der sozialistischen Revolution in Europa vorausgehen oder sie gar beträchtlich unterstützen könnte, war Engels (wie Marx) völlig fremd. Sollten Indien, Algerien oder Ägypten sich selbst befreien, dann wäre das „für uns sicher das beste. Wir werden genug zu Hause zu tun haben. Ist Europa erst reorganisiert und Nordamerika, so gibt das eine so kolossale Macht und ein solches Exempel, daß die halbzivilisierten Länder ganz von selbst ins Schlepptau kommen; das besorgen schon allein die ökonomischen Bedürfnisse.“ [6]
Auf den Spuren von Marx und Engels betrachtete Rosa Luxemburg die nationalen Bewegungen als ein wesentlich europäisches Phänomen und maß den asiatischen und afrikanischen Nationalbewegungen nur geringe Bedeutung bei. Wie Marx und Engels lehnte auch sie absolute Kriterien für die Beurteilung nationaler Unabhängigkeitskämpfe ab. Sie war kein schlichter Epigone, der lediglich die Theoreme der Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus wiederholt hätte.
Bereits recht früh in ihrem politischen Leben wies sie darauf hin, daß die Situation in Europa im allgemeinen und in Rußland im besonderen sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts so sehr gewandelt hatte, daß die Haltung von Marx und Engels gegenüber nationalen Bewegungen in Europa unhaltbar geworden war. In West- und Mitteleuropa war die Periode der bürgerlich-demokratischen Revolutionen abgeschlossen. Die preußischen Junker hatten ihre Herrschaft in einem Maße festigen können, daß sie der zaristischen Hilfe nicht mehr bedurften. Gleichzeitig war das zaristische Regime nicht länger die unüberwindliche Bastion der Reaktion; tiefe Risse begannen ihre Mauern zu durchziehen: die Massenstreiks der Arbeiter in Warschau, Lodz, Petersburg, Moskau und anderwärts im russischen Reich, die beginnende Rebellion der Bauern. Während zur Zeit von Marx und Engels das Zentrum der Revolution tatsächlich in West- und Mitteleuropa gelegen hatte, war es nun, gegen Ende des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts nach Osten, nach Rußland gewandert. Während zu Marx’ Zeit der Zarismus der wichtigste Gendarm zur Unterdrückung revolutionärer Erhebungen in anderen Ländern gewesen war, brauchte nun der Zarismus die (hauptsächlich finanzielle) Hilfe der westlichen kapitalistischen Mächte. Es flossen nicht mehr die russischen Kugeln und Rubel nach Westen, sondern deutsche, französische, britische und belgische Munition und Mark, Francs und Pfunde flossen in immer breiterem Strom nach Rußland. Rosa Luxemburg wies weiter darauf hin, daß in bezug auf die nationalen Hoffnungen ihrer Heimat Polen grundsätzliche Veränderungen vor sich gegangen waren. Während zur Zeit von Marx und Engels der polnische Adel die nationale Bewegung angeführt hatte, wurde seine Position nun, mit der zunehmenden kapitalistischen Entwicklung des Landes, mehr und mehr geschwächt, und er wandte sich dem Zarismus als einem Verbündeten bei der Unterdrückung fortschrittlicher Bewegungen in Polen zu. Das Ergebnis war, daß der polnische Adel sein Interesse an Unabhängigkeitsbestrebungen verlor. Auch die polnische Bourgeoisie geriet in Interessengegensatz zu dem Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit, da sie den wichtigsten Markt für ihre Industrie in Rußland fand. „Polen ist mit goldenen Ketten an Rußland gefesselt“, sagte Rosa Luxemburg. „Nicht der Nationalstaat, sondern der Raubstaat entspricht der kapitalistischen Entwicklung.“ [7] Auch die polnische Arbeiterklasse war Rosa Luxemburg zufolge nicht an einer Trennung Polens von Rußland interessiert, da sie in Moskau und Petersburg die Verbündeten von Warschau und Lodz sah. Es gab daher keine sozialen Kräfte von Bedeutung, die an einem Kampf um die nationale Unabhängigkeit Polens interessiert waren. Nur die Intelligenz klammerte sich noch an diese Idee, aber sie repräsentierte nur eine unbedeutende gesellschaftliche Kraft. Rosa Luxemburg schloß ihre Analyse der sozialen Kräfte in Polen und deren Haltung zur nationalen Frage mit folgenden Worten: „Die gekennzeichnete Richtung der sozialen Entwicklung hat es mit sich gebracht, daß es in Polen jetzt keine Gesellschaftsklasse gibt, die ein Interesse an der Wiederherstellung Polens und zugleich die Kraft hätte, dieses Interesse zur Geltung zu bringen.“ [8]
Über diese Analyse kam sie zu dem Schluß, daß unter dem Kapitalismus die Parole der nationalen Unabhängigkeit keine fortschrittliche Bedeutung habe und durch die inneren Kräfte der polnischen Nation nicht realisiert werden könne; nur die Intervention der einen oder anderen imperialistischen Macht könnte die Unabhängigkeit bringen. Unter sozialistischen Verhältnissen, meinte Rosa Luxemburg, sei kein Raum mehr für die Parole der nationalen Unabhängigkeit, da es nationale Unterdrückung nicht mehr geben werde und die internationale Einheit der Menschheit realisiert sei. Daher könne im Kapitalismus die wahre Unabhängigkeit Polens nicht verwirklicht werden, und alle Schritte in dieser Richtung hätten keinerlei fortschrittliche Bedeutung; im Sozialismus aber sei diese Parole überflüssig. Daher habe die Arbeiterklasse kein Interesse am Kampf um die nationale Selbstbestimmung Polens, und dieser Kampf sei in Wirklichkeit reaktionär. Die nationalen Parolen der Arbeiterklasse sollten sich auf die Forderung nach Autonomie im kulturellen Leben beschränken.
Wegen dieser Position gerieten Rosa Luxemburg und ihre Partei, die SDKPiL, in einen heftigen Konflikt mit dem rechten Flügel der PPS unter Pilsudski (dem späteren Militärdiktator Polens). Dieser Flügel bestand aus Nationalisten, die sich lediglich verbal auf den Sozialismus beriefen. Da ihnen für ihren Nationalismus eine Massenbasis fehlte, ließen sie sich auf Abenteuer und Verschwörungen mit ausländischen Mächten ein; sie hofften, die nationale Unabhängigkeit sogar über einen Zukünftigen Weltkrieg zu erreichen. In Galizien, dem Stützpunkt des rechten Flügels der PPS, genossen die Polen unter österreichischer Herrschaft eine bessere Behandlung als ihre Landsleute im russischen Zarenreich, vor allem, weil die Führer des habsburgischen Kaiserreiches sich auf die herrschende polnische Klasse verlassen muten, um ihr kaiserliches Imperium zu festigen. Daher neigten die PPS-Führer dazu, das habsburgische Kaiserreich dem russischen vorzuziehen und agierten im ersten Weltkrieg als Rekrutenanwerber für Wien und Berlin. Während der Revolution von 1905 war Daszynski, der Führer der PPS in Galizien, so weit gegangen, die Massenstreiks der polnischen Arbeiter zu verurteilen, weil sie seiner Meinung nach dazu angetan waren, den Kampf der polnischen Arbeiter mit dem der russischen zu identifizieren und damit die nationale Einheit und Einigkeit der Polen zu unterminieren. Nur wenn man sich Rosa Luxemburgs Gegner in der polnischen Arbeiterbewegung vor Augen hält, kann man ihre Position in der nationalen Frage Polens richtig verstehen.
Der Kampf, den Rosa gegen die chauvinistische PPS zu führen hatte, prägte auch ihre allgemeine Haltung zur nationalen Frage. In ihrer Opposition gegen den Nationalismus der PPS ging sie so weit, sich jeder Erwähnung des Selbstbestimmungsrechts der Völker im Parteiprogramm zu widersetzen. Aus diesem Grunde spaltete sich ihre Partei, die SDKPiL, schon 1903 von der russischen Sozialdemokratie ab und schloß sich in der Folgezeit niemals organisatorisch den Bolschewiki an.
Lenin stimmte mit Rosa Luxemburgs Opposition zur PPS überein und argumentierte wie sie, Pflicht der polnischen Sozialisten sei nicht der Kampf um die nationale Unabhängigkeit oder Lostrennung von Rußland, sondern der Kampf für die internationale Einheit der polnischen und russischen Arbeiter. Lenin war aber, als Angehöriger einer Unterdrückernation, zu Recht besorgt, daß eine Haltung, die die nationale Frage einfach negierte, Wasser auf die Mühlen der großrussischen Chauvinisten bedeuten würde. Folglich konnten und sollten die polnischen Arbeiter es vermeiden, die Errichtung eines Nationalstaates zu fordern, die russischen Sozialisten aber für das Recht der Polen kämpfen, einen separaten Staat zu gründen, falls sie dies wünschten:
Das gewaltige geschichtliche Verdienst der polnischen sozialdemokratischen Genossen ist, daß sie die Losung des Internationalismus aufstellten und sagten: Das wichtigste für uns ist das brüderliche Bündnis mit dem Proletariat aller anderen Länder, und wir werden uns nie auf einen Krieg für die Befreiung Polens einlassen. Das ist ihr Verdienst, und darum haben wir immer nur diese Genossen von der polnischen Sozialdemokratie für Genossen gehalten. Die anderen sind Patrioten, polnische Plechanows. Aber infolge dieser eigentümlichen Lage, wo man, um den Sozialismus zu retten, gegen einen tollen, krankhaften Nationalismus kämpfen mußte, kam es zu einer seltsamen Erscheinung: die Genossen kamen zu uns und sagten uns, daß wir auf die Freiheit Polens, auf seine Lostrennung verzichten sollen.
Warum sollen wir Großrussen, die wir mehr Nationen unterdrücken als irgendein anderes Volk, darauf verzichten, das Recht Polens, der Ukraine, Finnlands auf Lostrennung anzuerkennen? ... (Die polnischen Sozialdemokraten sagen:) Gerade weil wir ein Bündnis mit den russischen Arbeitern für vorteilhaft halten, sind wir gegen die Lostrennung Polens. Das ist ihr gutes Recht. Aber diese Leute wollen nicht verstehen, daß man, um den Internationalismus zu stärken, nicht überall ein und dasselbe sagen darf, daß man vielmehr in Rußland für das Recht der unterdrückten Nationen auf Lostrennung eintreten, in Polen dagegen das Recht auf Vereinigung betonen muß. Die Freiheit der Vereinigung setzt die Freiheit der Lostrennung voraus. Wir Russen müssen die Freiheit der Lostrennung betonen, in Polen aber muß man die Freiheit der Vereinigung betonen. [9]
Die Differenz zwischen Lenins und Rosa Luxemburgs Haltung zur nationalen Frage läßt sich kurz folgendermaßen formulieren: Während Rosa, vom Kampf gegen den polnischen Nationalismus ausgehend, dazu neigt, die nationale Unabhängigkeit bewußt zu negieren, sah Lenin realistisch, daß angesichts der verschiedenen Positionen unterdrückter und unterdrückender Nationen auch deren Haltung gegenüber der gleichen Frage verschieden sein müsse. So gehen beide von verschiedenen, einander widersprechenden Situationen aus, schreiten in entgegengesetzter Richtung fort, um am gleichen Punkt der internationalen Einheit der Arbeiter anzukommen. Rosa Luxemburg tat die Frage der nationalen Selbstbestimmung als unvereinbar mit dem Klassenkampf ab; Lenin ordnete sie dem Klassenkampf unter (ebenso wie er sich alle anderen demokratischen Bestrebungen als Waffen im allgemeinen revolutionären Kampf zunutze machte). Der entscheidende, bei Rosa Luxemburg fehlende Punkt der Leninschen Analyse der nationalen Frage war die Dialektik: er sah die Einheit der Gegensätze in der nationalen Unterdrückung, und die Unterordnung des Teils (des Kampfes um nationale Unabhängigkeit) unter das Ganze (den internationalen Kampf für den Sozialismus).
Rosa Luxemburgs Stärke bei der Behandlung der nationalen Frage (und anderer Probleme) liegt im Internationalismus und in der Unabhängigkeit ihres Denkens. Sie untersuchte, vermittels der Marx’schen Theorie, wie sich die Lage Polens gegenüber Rußlands seit Marx’ Zeiten verändert hatte. So kam sie dazu, im Gegensatz zu Marx, den nationalen Kampf Polens abzulehnen, aber gleichzeitig – wiederum im Gegensatz zu Marx und Engels – auch die nationale Bewegung der Südslawen gegen die Türken zu unterstützen. Marx und Engels hatten für die Verteidigung der Einheit des Osmanischen Reiches plädiert, damit der Vormarsch des Zarismus aufgehalten werde. Sie meinten, die nationalen Bewegungen der Südslawen, die von panslawistischen Gedanken getragen waren und als blinde Werkzeuge dem Zarismus dienten, müßten bekämpft werden. Rosa Luxemburg gab eine ausgezeichnete Analyse der seit Marx entstandenen neuen Bedingungen auf dem Balkan. Sie kam zu dem Schluß, daß die Befreiung der von den Türken unterdrückten Balkanvölker die Nationen des österreichisch-ungarischen Reiches in Bewegung bringen werde. Das Ende des türkischen Reiches in Europa würde auch das Ende des habsburgischen Reiches bedeuten. Weiterhin seien seit Marx die nationalen Bewegungen des Balkans unter die Vorherrschaft der Bourgeoisie geraten, und daher sei die Fortdauer des russischen Einflusses nur auf die türkische Unterdrückung zurückzuführen. Die Befreiung der Balkanvölker vom türkischen Joch würde den Einfluß des Zarismus nicht stärken, sondern schwächen, da diese Völker dann unter Führung einer jungen und fortschrittlichen Bourgeoisie stünden, die immer häufiger mit dem reaktionären Zarismus zusammenstoßen würde. So unterschied sich Rosa Luxemburgs Stellung zu den nationalen Bestrebungen der Balkanvölker sehr von ihrer Haltung gegenüber Polen.
Rosas lebendiges, unabhängiges Denken wurde freilich in seiner Kraft durch ihre Neigung beeinträchtigt, ihre unmittelbaren Erfahrungen zu rasch auf die Arbeiterbewegung in anderen Ländern zu übertragen.
1. Leipzig 1898.
2. Marx u. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, (1847–48), zit. nach MEW, Bd.4, S.492.
3. Brief an Friedrich A. Sorge, 27. September 1877, zit. nach MEW Bd.34, S.296.
4. Brief an Karl Kautsky, 12. September 1882, zit. nach MEW Bd.35, S.357.
5. a.a.O.
6. a.a.O., S.358.
7. Przeglad Socjaldemokratyczny (Sozialdemokratische Rundschau), theoretisches Organ der SDKPiL, 1908, Nr.6.
8. Der Sozialpatriotismus in Polen, in Die Neue Zeit, XIV. Jg., 11. Bd., Nr.41, Stuttgart, Juli 1896, S.466.
9. Rede über die nationale Frage vor dem 7. Kongreß der SDAPR(B), 12.5.1917, zit. nach Werke, Bd.24, S.290.
Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003