MIA > Deutsch > Marxisten > Cliff > Staatskapitalismus > Verzeichnis Kap.1
Würde die gesamte Produktion der Welt von einer einzigen Macht beherrscht, das heißt, gelänge es der stalinistischen Bürokratie, die Welt unter ihrer Herrschaft zu einen, und wären die Massen gezwungen, ein solches Regime hinzunehmen, dann wäre das daraus hervorgehende Ausbeutungssytem nicht dem Wertgesetz mit all dessen zwangsläufigen Folgeerscheinungen unterworfen. Zu genau dieser Schlußfolgerung kam Bucharin – 1915 natürlich nur in Form einer Hypothese –, als er dieses Problem untersuchte. In seinem Buch „Imperialismus und Weltwirtschaft“ erläutert er, daß auch bei staatlicher Organisation der einzelnen nationalen Wirtschaft, die Warenwirtschaft – vor allein in Form des Weltmarktes – bestehen bleibt. In diesem Fall handele es sich um eine staatskapitalistische Wirtschaft.
Aber „wenn der Warencharakter der Produktion vernichtet wäre [z.B. bei einer Organisierung der gesamten Weltwirtschaft in einem einzigen ungeheuren staatskapitalistischen Trust, die Bucharin im übrigen für unmöglich hielt], dann hätten wir es mit einer ganz besonderen Wirtschaftsform zu tun. Das wäre kein Kapitalismus mehr, denn die Produktion von Waren wäre verschwunden. Aber das wäre erst recht kein Sozialismus, denn die Herrschaft einer Klasse über die andere bliebe bestehen [ja, wäre sogar noch vertieft]. Eine solche Wirtschaftsstruktur würde am meisten an eine geschlossene Sklavenwirtschaft bei fehlendem Sklavenmarkt erinnern.“ [405]
(Angesichts nationaler und sozialer Konflikte ist es sehr unwahrscheinlich, daß es je zu einem derartigen Weltreich kommen könnte.)
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist es unmöglich, auf die Marx’sche Analyse der kapitalistischen Überproduktionskrise näher einzugehen. Wir müssen uns deshalb auf eine kurze Zusammenfassung beschränken.
Anders als alle vorkapitalistischen Produktionsweisen ist der Kapitalismus gezwungen, immer mehr Kapital zu akkumulieren. Dieser Prozeß wird durch zwei einander ergänzende und gleichwohl gegensätzliche Faktoren behindert, die dem System selber entspringen. Der eine Faktor ist die fallende Profitrate, die dazu führt, daß die Reserven für weitere Akkumulation schrumpfen. Der andere Faktor ist der Anstieg der Produktion über die Aufnahmefähigkeit des Marktes hinaus. Gäbe es den ersten Widerpruch nicht, wäre die „unterkonsumtionistische“ Lösung der Krise – die Löhne der Arbeiter zu erhöhen – eine einfache und ausgezeichnete Antwort. Existierte der zweite Widerspruch nicht, hätte der Faschismus die Krise durch ständige Lohnkürzungen wenigstens für eine längere Zeitspanne aufschieben können.
Marx schrieb im Zusammenhang mit dem zweiten Gesichtspunkt des kapitalistischen Dilemmas, der niedrigen Massenkaufkraft:
Die gesamte Warenmasse, das Gesamtprodukt, sowohl der Teil, der das konstante und variable Kapital ersetzt, wie der den Mehrwert darstellt, muß verkauft werden. Geschieht das nicht oder nur zum Teil, oder nur zu Preisen, die unter den Produktionspreisen stehn, so ist der Arbeiter zwar exploitiert, aber seine Exploitation realisiert sich nicht als solche für den Kapitalisten, kann mit gar keiner oder nur teilweiser Realisation des abgepreßten Mehrwerts, ja mit teilweisem oder ganzem Verlust seines Kapitals verbunden sein. Die Bedingungen der unmittelbaren Exploitation und die ihrer Realisation sind nicht identisch. Sie fallen nicht nur nach Zeit und Ort, sondern auch begrifflich auseinander. Die einen sind nur beschränkt durch die Produktivkraft der Gesellschaft, die andren durch die Proportionalität der verschiedenen Produktionszweige und durch die Konsumtionskraft der Gesellschaft. Diese letztere ist aber bestimmt weder durch die absolute Produktionskraft noch durch die absolute Konsumtionskraft; sondern durch die Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder enger Grenzen veränderliches Minimum reduziert. Sie ist ferner beschränkt durch den Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter. [406]
Und er schreibt an anderer Stelle weiter:
Die ungeheure Produktivkraft im Verhältnis der Bevölkerung, die innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise sich entwickelt und wenn auch nicht im selben Verhältnis, das Wachsen der Kapitalwerte (nicht nur ihres materiellen Substrats), die viel rascher wachsen als die Bevölkerung, widerspricht der, relativ zum wachsenden Reichtum, immer schmaler werdenden Basis, für die diese ungeheure Produktivkraft wirkt, und den Verwertungsbedürfnissen dieses schwellenden Kapitals. Daher die Krisen. [407]
Wiederum an anderer Stelle drückte er denselben Gedanken mit folgenden Worten aus:
Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde. [408]
Letzten Endes besteht die Ursache der kapitalistischen Krise darin, daß ein immer größrer Teil des gesellschaftlichen Reichtums in die Hände der Kapitalistenklasse fällt und ein immer größerer Teil davon nicht für den Kauf von Konsumtions-, sondern von Produktionsmitteln verwendet wird, das heißt in die Akkumulation von Kapital eingeht. Alle Produktionsmittel sind aber potentiell Konsumtionsmittel – das heißt nach einer kurzen Zeitspanne wird der Wert der Produktionsmittel auf die Konsumtionsmittel übertragen. Wächst aber der zur Akkumulation verwandte Teil des Volkseinkommens schneller als der zur Konsumtion verwandte, so muß das zur Überproduktion führen. Dieser Prozeß verläuft kumulativ. Der Anstieg der Akkumulation wird von Rationalisierungsmaßnahmen begleitet, die die Ausbeutungsrate erhöhen. Je höher die Ausbeutungsrate, desto größer wird der Akkumulationsfond im Vergleich zum Lohnfond der Arbeiter und zur Revenue des Kapitalisten. Akkumulation erzeugt Akkumulation.
Wären „Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen“ die einzigen Ursachen der kapitalistischen Krise, dann wäre die Krise permanent, da die Löhne der Arbeiter insgesamt gesehen immer hinter dem Anstieg der Arbeitsproduktivität zurückbleiben. Dann gäbe es nur eine Dauerkrise, nicht aber das uns bekannte katastrophenartige Zusammentreffen verschiedener Krisenelemente.
Das kapitalistische Dilemma hat jedoch zwei Seiten. Die zweite ist die fallende Profitrate. Im Prozeß der Kapitalakkumulation erhöht sich die organische Zusammensetzung des Kapitals, das heißt, lebendige Arbeit wird durch tote ersetzt (die in den Maschinen usw. enthalten ist). Da nur die lebende Arbeit Mehrwert produziert, hat die Profitrate beständig die Tendenz zu fallen. Diese Tendenz führt zu verschärfter Konkurrenz zwischen den Kapitalisten, da jeder Kapitalist versuchen muß, seinen Gesamtprofit auf Kosten seines Rivalen zu erhöhen. Die Konkurrenz führt zur Rationalisierung und so zu einer weiteren Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals. Aus diesem Teufelskreis gibt es keinen Ausweg.
Diese Tendenz ist nicht die unmittelbare Ursache für den Zyklus von Aufschwung Boom, Krise und Depression. Marx erläutert, daß der Fall der Profitrate ein sehr langsamer Prozeß ist (38) mit vielen gegenläufigen Faktoren. Trotzdem bildet der Fall der Profitrate den Hintergrund des Wirtschafts-Zyklus. Unmittelbare Ursachen sind Veränderungen in der Lohnquote, die auf Veränderungen in der Nachfrage nach Arbeitskräften zurückgehen, die den Akkumulationsprozeß begleiten. Marx schrieb über den Fall der Profitrate:
Er befördert Überproduktion, Spekulation, Krisen, überflüssiges Kapital neben überflüssiger Bevölkerung. [409]
Die Schranke der kapitalistischen Produktion tritt hervor: 1. Darin, daß die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit im Fall der Profitrate ein Gesetz erzeugt, das ihrer eigenen Entwicklung auf einen gewissen Punkt feindlichst gegenübertritt, und daher bestände, durch Krisen überwunden werden muß. [410]
Infolge der wachsenden Beschäftigung während des Booms steigt das Lohnniveau. Aufgrund dieser Tatsache widersprach Marx all denen, die meinten,
die Arbeiterklasse erhalte einen zu geringen Teil ihres eigenen Produkts, und dem Übelstand werde mithin abgeholfen, sobald sie größeren Anteil daran empfängt, ihr Arbeitslohn folglich wächst ...“ Vielmehr sei „zu bemerken, daß die Krisen jedesmal gerade vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse relativ größeren Anteil an dem für Konsumtion bestimmten Teil des jährlichen Produkts erhält. [411]
Im Zusammenhang von Konjunkturzyklus, Profitrate, Lohnniveau und Beschäftigungsgrad ist Marx zufolge der letzte Faktor ein entscheidendes Merkmal für das Ende des Booms und den Beginn der Krise:
Die ganze Bewegungsform der modernen Industrie erwächst also aus der beständigen Verwandlung eines Teils der Arbeiterbevölkerung in Unbeschäftigte oder halbbeschäftigte Hände. Die Oberflächlichkeit der politischen Ökonomie zeigt sich u.a. darin, daß sie die Explosion und Kontraktion des Kredits, das bloße Symptom der Wechselperioden des industriellen Zyklus, zu deren Ursache macht. Ganz wie die Himmelskörper, einmal in eine bestimmte Bewegung geschleudert, dieselbe stets wiederholen, so die gesellschaftliche Produktion, sobald sie einmal in jene Bewegung wechselnder Expansion und Kontraktion geworfen ist. Wirkungen werden ihrerseits zu Ursachen, und die Wechselfälle des ganzen Prozesses, der seine eigenen Bedingungen stets reproduziert, nehmen die Form der Periodizität an. [412]
Nach dieser Analyse bestimmt die Profitrate die Akkumulationsrate, die Akkumulationsrate den Beschäftigungsgrad, der Beschäftigungsgrad das Lohnniveau, das Lohnniveau die Profitrate, und so weiter in einem unendlichen Kreis. Eine hohe Profitrate führt zu schneller Akkumulation und als Folge dessen zu einem Beschäftigungsanstieg und zu Lohnerhöhungen. Dieser Prozeß setzt sich bis zu einem Punkt fort, wo die Erhöhung der Lohnquote die Profitrate derart nachteilig beeinflußt, daß die Akkumulation entweder katastrophenartig sinkt oder überhaupt aufhört.
Profitratenzyklus, Akkumulationszyklus und Beschäftigungszyklus bilden den Lebenszyklus des fixen Kapitals (d.h. der Maschinen, Anlagen usw.):
In demselben Maß also, worin sich mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise der Wertumfang und die Lebensdauer des angewandten fixen Kapitals entwickelt, entwickelt sich das Leben der Industrie und des industriellen Kapitals in jeder besondren Anlage zu einem vieljährigen, sage im Durchschnitt zehnjährigen. Wenn einerseits die Entwicklung des fixen Kapitals dieses Leben ausdehnt, so wird es andrerseits abgekürzt durch die beständige Umwälzung der Produktionsmittel, die ebenfalls mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise beständig zunimmt. Mit ihr daher auch der Wechsel der Produktionsmittel und die Notwendigkeit ihres beständigen Ersatzes infolge des moralischen Verschleißes, lange bevor sie physisch ausgelebt sind. Man kann annehmen, daß für die entscheidendsten Zweige der großen Industrie dieser Lebenszyklus jetzt im Durchschnitt ein zehnjähriger ist. Doch kommt es hier nicht auf die bestimmte Zahl an. Soviel ergibt sich: Durch diesen eine Reihe von Jahren umfassenden Zyklus von zusammenhängenden Umschlägen, in welchen das Kapital durch seinen fixen Bestandteil gebannt ist, ergibt sich eine materielle Grundlage der periodischen Krisen, worin das Geschäft aufeinanderfolgende Perioden der Abspannung, mittleren Lebendigkeit, Überstürzung, Krise durchmacht. Es sind zwar die Perioden, worin Kapital angelegt wird, sehr verschiedne und auseinanderfallende. Indessen bildet die Krise immer den Ausgangspunkt einer großen Neuanlage. Also auch – die ganze Gesellschaft betrachtet – mehr oder minder eine neue materielle Grundlage für den nächsten Umschlagszyklus. [413]
Diese Theorie erklärt, warum es trotz der antagonistischen Verteilungsweise und der Tendenz zur fallenden Profitrate zu keiner permanenten Überproduktionskrise, sondern zu einer zyklischen Wirtschaftsentwicklung kommt. Während der Periode, in der das fixe Kapital erneuert und erweitert wird, führt der Einsatz neuer Produktionsmittel nicht unmittelbar zu einem erweiterten Angebot an Fertigprodukten. Aber nach einer gewissen Zeit, möglicherweise nach einigen Jahren, wird der Wert der neuen Produktionsmittel auf neue Produkte, sowohl Produktions- als auch Konsumtionsmittel, übertragen. Das geht zu diesem Zeitpunkt vonstatten, ohne daß überhaupt noch neues Kapital investiert wird bzw. so, daß zumindest nur sehr geringe Kapitalmengen investiert werden. Anders ausgedrückt: Die Investitionen zum Aufbau neuer oder zur Erweiterung alter Industrien sind im Vergleich zur Zunahme des Ausstoßes an Fertigprodukten einige Jahre lang sehr groß. Das sind die Boomjahre. Ihnen folgt eine Periode, in der der Ausstoß an Fertigprodukten fast gleichzeitig mit dem Fall der Akkumulationsrate erheblich zunimmt. Das ist der Gipfel des Booms und der Vorbote der kommenden Krise. Dann kommt die Krise: die Produktion geht katastrophenartig zurück, Investitionen werden gestoppt, wenn nicht sogar bereits getätigte Investitionen wieder rückgängig gemacht werden.
Ein weiterer Faktor muß in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden – die Disproportion zwischen verschiedenen Industriezweigen. Sie kann die unmittelbare Folge der Anarchie der kapitalistischen Produktion sein. Die Kapitalisten eines bestimmten Industriezweiges können die Nachfrage nach ihren Produkten überschätzen und ihre Produktionskapazitäten übermäßig ausdehnen. Da es viele Kapitalisten gibt, erfährt der Einzelkapitalist erst nach der Produktion der Güter über den Markt, daß das Angebot die Nachfrage übersteigt. Das führt zu sinkenden Preisen, zu einem Fall der Profitrate, zu einer Einschränkung oder Verringerung der Nachfrage nach Arbeitskräften, Rohstoffen, von anderen Kapitalisten hergestellte Maschinen usw. Diese Einschränkung muß nicht unbedingt durch eine Produktionsausweitung anderer Industrien kompensiert werden. Ganz im Gegenteil kann der Produktionsrückgang in der einen Industrie zu ähnlichen Folgen in anderen Industrien führen, die direkt oder indirekt von ihr abhängig sind. Ist die Industrie, die als erste unter Überproduktion leidet, von großer Bedeutung, kann eine allgemeine Krise die Folge sein.
Damit eine Krise (also auch die Überproduktion), allgemein sei, genügt es, daß sie die leitenden Handelsartikel ergreife. [414]
In diesem Fall ist die Disproportion zwischen verschiedenen Industrien die Ursache für die fallende Profitrate und den sinkenden Konsum der Massen, und alle drei Faktoren zusammen sind Ursache der Krise. Die Disproportion zwischen verschiedenen Industrien kann aber umgekehrt ebenso auch die Folge der fallenden Profitrate oder der Unterkonsumtion der Massen sein. Ergibt sich auf der Basis einer bestimmten Profitrate eine bestimmte Akkumulationsrate, dann bestimmt die Profitrate die Nachfrage nach Produktionsmitteln und führt zu einem bestimmten Verhältnis zwischen der Nachfrage nach Produktions- bzw. Konsumgütern. Da die Akkumulation zurückgeht, wenn die Profitrate fällt, verändert sich sofort die Nachfragestruktur und das Gleichgewicht wird gestört, das zwischen der Nachfrage nach beiden Güterarten herrschte. Eine ähnliche Beziehung besteht zwischen der Unterkonsumtion der Massen und dem Verhältnis bzw. Mißverhältnis zwischen den verschiedenen Industrien.
Die „Konsumtionskraft der Gesellschaft“ und die „Proportionalität der verschiedenen Produktionszweige“ – das sind durchaus nicht irgendwelche einzelne selbständigen, miteinander nicht zusammenhängenden Bedingungen. Im Gegenteil, ein gewisser Stand der Konsumtion ist eines der Elemente der Proportionalität. [415]
Ein Symptom für die Disproportion zwischen verschiedenen Industriezweigen ist die Veränderung zwischen Rohstoffproduktion und -nachfrage. Zu Beginn des Aufschwungs übersteigt das Rohstoffangebot gewöhnlich die Nachfrage, und die Preise sind daher sehr niedrig. Nimmt die Wirtschaftstätigkeit zu, steigen die Preise und erhöhen die Produktionskosten, was die Profitrate nachteilig beeinflußt. [416]
Während des Booms steigen die Rohstoffpreise normalerweise schneller als die Preise von Fertigprodukten, während sie in der Krise viel steiler abfallen; der Grund dafür liegt darin, daß das Rohstoffangebot viel weniger elastisch ist als das von Fertigprodukten.
Ein weiterer Anhaltspunkt für diese Disproportion ist der Zinssatz. Er ist allerdings eher Ergebnis als Ursache des Wirtschaftszyklus, wirkt aber gleichwohl selbst erheblich auf den Wirtschaftszyklus zurück. Die Kapitalisten erhalten nicht den gesamten Mehrwert, der in ihren Unternehmen produziert wird, sondern nur den Teil, der nach Abzug von Mieten (bzw. Pachtzinsen), Steuern und Zinsen übrig bleibt. Am Anfang des Konjunkturzyklus übersteigt das Kreditangebot gewöhnlich die Nachfrage. Der Zinssatz ist daher niedrig, was den Aufschwung begünstigt. Während des Booms bleibt der Zinssatz niedrig, steigt dann kurz vor dem Ende des Booms steil an und erreicht mit Beginn der Krise seinen Höhepunkt. Danach sinkt er rapide ab. [417] Während sich also die Kurve der allgemeinen Profitrate und des Konjunkturzyklus ungefähr decken, weist der Zinssatz weit größere Schwankungen auf, seine Kurve schneidet die Kurve des Konjunkturzyklus. Die Zinssatzveränderungen heizen einerseits den in Gang gekommenen Aufschwung noch weiter an und stürzen andererseits die Wirtschaft in immer tiefer gehende Krisen.
Der Kredit hat es dem Kapitalismus möglich gemacht, sich in beispiellosem Tempo zu entwickeln, aber gleichzeitig hat er die Instabilität des Systems erhöht: Er machte die Unternehmer blind für die realen Marktbedingungen, so daß sie die Produktion über den Punkt hinaus ausdehnen an dem sie aufgehört hätten, wenn alle Zahlungen bar geleistet werden müßten. Das schiebt den Beginn der Krise auf, macht sie im Endeffekt aber nur desto schwerer.
Die Kette der Mittelsmänner zwischen industriellem Kapitalisten und Verbraucher stellt einen weiteren Faktor dar, der für den Beginn der Krise eine Rolle spielt. Infolge ihrer Tätigkeit kann die Produktion innerhalb gewisser Grenzen ansteigen, ohne daß sich der Verkauf der Produkte an die Konsumenten in entsprechender Weise entwickelt. Die unverkauften Produkte bleiben als Lagerbestände in den Händen der Händler, was die Krise, wenn sie kommt, noch verschärft.
Das war in aller Kürze die Marxsche Theorie der kapitalistischen Krise.
Es liegt auf der Hand, daß einige der Ursachen für Überproduktionskrisen im traditionellen Kapitalismus in einem staatskapitalistischen System entfallen. Zum Beispiel gäbe es im Staatskapitalismus keine Zwischenhändler; auch im Rahmen des Privatkapitalismus wäre es ja möglich, die Zwischenhändler auszuschalten, indem der Unternehmer den Verbraucher über ein eigenes Handelsnetz mit seinen Produkten erreichte. Auch der Kredit wäre kein Krisenfaktor mehr, wenn alle Zahlungen bar geleistet würden. Im Staatskapitalismus würde auch der Zinssatz keine Rolle mehr für Produktionsschwankungen spielen. Da sich alles Kapital in staatlicher Hand befände, würde es keinen Unterschied machen, ob Investitionen über Kredite oder durch Kapitaleinsatz eines einzelnen Kapitalisten finanziert werden. Darüber hinaus könnte die Disproportion zwischen verschiedenen Industriezweigen nicht als auslösende Krisenursache wirken. Obgleich Fehlkalkulationen in der Investitionspolitik möglich sind und das Angebot bestimmter Produkte die Nachfrage übersteigen kann, wurde doch die Tatsache, daß der Staat Produktion und Nachfrage plant, jede schwerwiegende Disproportion verhindern. Da ferner dem Staat alle Industrien gehören würden, könnte sich auch nicht jener kumulative Prozeß entwickeln, in dessen Verlauf Preise und Profite sinken und der dabei von einer Industrie auf die andere überspringt. Vielmehr würde sich eine partielle Überproduktion unmittelbar auf die gesamte Wirtschaft ausdehnen. Bei Beginn des nächsten Produktionszyklus würde die Produktion bestimmter Güter eingeschränkt und das Gleichgewicht wiederhergestellt.
Allerdings würden diese Faktoren nur in einer autarken staatskapitalistischen Wirtschaft ihre Bedeutung verlieren. Würde das staatskapitalistische System für den Weltmarkt produzieren, würde es Kredite von anderen Ländern erhalten usw., dann wurden diese Faktoren einen gewissen Einfluß behalten.
Doch wie steht es mit dem grundlegenden Dilemma des traditionellen Kapitalismus? Wie kann eine hohe Profitrate erreicht und gleichzeitig der Mehrwert realisiert werden? Wie kann in raschem Tempo Kapital akkumuliert werden, ohne den dazu erforderlichen Markt zu zerstören?
In einer bestimmten Phase des Konjunkturzyklus, während des Booms, löst der traditionelle Kapitalismus das Problem vorübergehend so: eine hohe Profitrate führt zu rascher Akkumulation, das heißt zu einem im Vergleich zur Konsumgüterproduktion höheren Anstieg in der Produktion von Produktionsmitteln. Daher kann ein großer Teil des Mehrwerts in Industrien realisiert werden, die Produktionsmittel herstellen, das heißt im System der Produktion selber. (Das allein reicht aus, um zu erklären, warum die Unterkonsumtion der Massen nicht zu einer permanenten Krise führt und nicht jegliche Ausweitung der Produktion im Kapitalismus verhindert). Gelänge es dem Kapitalismus, den Boom aus einer vorübergehenden Phase in einen Dauerzustand zu verwandeln, gäbe es keine Überproduktion.
Ist der Staatskapitalismus dazu in der Lage? Kann er eine hohe Profitrate, eine hohe Akkumulationsrate und ein hohes Produktionsniveau ohne Veränderung der antagonistischen Verteilungsweise der „Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen“ garantieren?
Der einzige marxistische Ökonom, der auf das theoretische Problem einer Überproduktionskrise innerhalb einer staatskapitalistischen Wirtschaft einging, war Bucharin. Bei seiner Behandlung der Akkumulationstheorie Rosa Luxemburgs stellt er u.a. die Frage, wie die erweiterte Reproduktion im Staatskapitalismus [418] aussehen würde und diskutiert, ob es im Staatskapitalismus zu einer Überproduktionskrise kommen könnte. Er schreibt:
Ist hier eine Akkumulation möglich? Natürlich. Es wächst da konstante Kapital, da die Konsumtion der Kapitalisten wächst. Es entstehen dauernd neue Produktionszweige, die neuen Bedürfnissen entsprechen. Es wächst die Konsumtion der Arbeiter, mögen ihr auch bestimmte Schranken gesetzt sein. Ungeachtet der Unterkonsumtion, der Massen entstehen keine Krisen, da die gegenseitige Nachfrage aller Produktionszweige, wie auch der Konsumentennachfrage, sowohl der Kapitalisten als auch der Arbeiter von vornherein gegeben sind. (Statt einer „Anarchie der Produktion“ – ein vom Standpunkt des Kapitals rationeller Plan.) Hat man sich bei den Produktionsmitteln „verrechnet“, so wandert der Überschuß auf Lager, in der folgenden Produktionsperiode aber wird eine entsprechende Korrektur vorgenommen. Hat man sich dagegen in den Konsumtionsmitteln für Arbeiter verrechnet, so wird dieses Plus durch eine Verteilung unter die Arbeiter „verfüttert“ oder aber die entsprechende Portion des Produkts wird vernichtet, Auch im Falle eines Rechenfehlers in der Produktion von Luxusgegenständen ist der „Ausweg“ klar. Somit kann hier keinerlei Krise der Überproduktion entstehen. Der Gang der Produktion vollzieht sich im allgemeinen glatt. Den Ansporn für die Produktion und den Produktionsplan bildet die Konsumtion der Kapitalisten. Daher besteht hier keinerlei besonders schnelle Entwicklung der Produktion (geringe Zahl von Kapitalisten). [419]
Bucharins Formulierung „Daher besteht hier keinerlei besonders schnelle Entwicklung der Produktion“ ist mißverständlich. Nicht nur wird die Entwicklung der Produktion nicht besonders schnell, sondern sie wird langsamer sein als in der „freien“ kapitalistischen Wirtschaft mit ihren enormen produktiven Kapazitäten. Der staatskapitalistischen Wirtschaft droht Stagnation.
Es ist interessant zu sehen, daß Marx eine Stagnation der Produktion mit der Schrumpfung der Kapitalistenzahl auf eine bloße Handvoll in der ganzen Welt in Zusammenhang brachte.
Die Profitrate – schrieb er –, das heißt der verhältnismäßige Kapitalzuwachs, ist vor allem wichtig für alle neuen, sich selbständig gruppierenden Kapitalableger. Und sobald die Kapitalbildung ausschließlich in die Hände einiger weniger, fertigen Großkapitale fiele, für die die Masse des Profits die Rate aufwiegt, wäre überhaupt das belebende Feuer der Produktion erlöschen. Sie würde einschlummern. [420]
Könnte es nicht eine kapitalistische Produktionsweise geben, in der einerseits ein hohes, ständig steigendes Produktionsniveau, gleichzeitig aber die gegenwärtige antagonistische Verteilungsweise herrscht? Man könnte etwa folgendes Modell konstruieren:
Jeder Anstieg der Arbeitsproduktivität wird von einem entsprechenden Anstieg der Produktion von Produktionsmitteln begleitet, während die Produktion von Konsumtionsmitteln nicht über die Zuwachsrate der Bevölkerung und des Verbrauchs der Kapitalistenklasse hinaus erweitert würde. Mit der Einführung technischer Neuerungen würden Kapital und Arbeiter von der Produktion von Konsumtionsmitteln in die Produktion von Produktionsmitteln verlagert: Mehr Menschen und mehr Kapital würden zur Herstellung von Maschinen eingesetzt, die wieder neue Maschinen erzeugen usw., während die Produktion von Konsumtionsmitteln mit der Erhöhung der Produktionskapazität der Gesellschaft nicht Schritt hält. Die Produktion kreist immer mehr in sich selbst, und der Markt, für den der Kapitalismus dann produzieren würde, läge innerhalb der Produktion selbst. Solange zwischen den beiden Wirtschaftssektoren die richtigen Relationen eingehalten werden, würde es zu keiner Überproduktionskrise kommen, wie gering die Kaufkraft der Massen auch sein mag.
So argumentierte der sozialistische, nicht-marxistische russische Ökonom Michail Tugan-Baranowski. Er schrieb:
Die angeführten Schemata mußten zur Evidenz den an sich sehr einfachen Grundsatz beweisen, welcher aber bei ungenügendem Verständnis des Prozesses der Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals leicht Einwände hervorruft, nämlich den Grundsatz, daß die kapitalistische Produktion für sich selbst einen Markt schafft. Ist es nur möglich, die gesellschaftliche Produktion zu erweitern, reichen die Produktivkräfte dazu aus, so muß bei der proportionellen Einteilung der gesellschaftlichen Produktion auch die Nachfrage eine entsprechende Erweiterung erfahren, denn unter diesen Bedingungen repräsentiert jede neuproduzierte Ware eine neuerschienene Kaufkraft für die Erwerbung anderer Waren. Aus der Vergleichung der einfachen Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals mit dessen Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter kann man den höchst wichtigen Schluß ziehen, daß in der kapitalistischen Wirtschaft die Nachfrage nach Waren vom Gesamtumfang der gesellschaftlichen Konsumtion in einem gewissen Sinne unabhängig ist: es kann der Gesamtumfang der gesellschaftlichen Konsumtion zurückgehen und zugleich die gesamte gesellschaftliche Nachfrage nach Waren wachsen, wie absurd das auch vom Standpunkt des „gesunden Menschenverstandes“ erscheinen mag. [421]
Danach kann nur eine Disproportion in der Expansionsrate der beiden Wirtschaftssektoren eine Krise auslösen:
Ist ... die Ausdehnung der Produktion praktisch grenzenlos, so müssen wir die Ausdehnung des Marktes als ebenso grenzenlos annehmen, denn es gibt bei der proportionellen Einteilung der gesellschaftlichen Produktion nur die Ausdehnung des Marktes keine andere Schranke außer den Produktivkräften, über welche die Gesellschaft verfügt. [422]
Der technische Fortschritt gelangt darin zum Ausdruck, daß die Bedeutung der Arbeitsmittel, der Maschine, immer mehr, im Vergleich mit der lebendigen Arbeit, dem Arbeiter selbst, zunimmt. Die Produktionsmittel spielen eine immer größere Rolle im Produktionsprozeß und auf dem Weltmarkt. Der Arbeiter tritt gegenüber der Maschine in den Hintergrund, und zugleich tritt in den Hintergrund die aus der Konsumtion des Arbeiters entstehende Nachfrage, welche aus der produktiven Konsumtion der Produktionsmittel entsteht. Das ganze Getriebe der kapitalistischen Wirtschaft nimmt den Charakter eines gleichsam für sich selbst existierenden Mechanismus ein, in welchem die Konsumtion des Menschen als ein einfaches Moment des Prozesses der Reproduktion und der Zirkulation des Kapitals erscheint. [423]
In einer anderen Schrift trieb Tugan-Baranowski den Gedanken auf die Spitze:
Sind einmal alle Arbeiter bis auf einen einzigen verschwunden und durch Maschinen ersetzt, so wird dieser einzige Arbeiter die ungeheure Masse von Maschinen in Bewegung setzen und mit ihrer Hilfe neue Maschinen – und Konsumtionsmittel der Kapitalisten – herstellen. Die Arbeiterklasse wird verschwinden, was nicht im mindesten den Verwertungsprozeß des Kapitals stören wird. Die Kapitalisten werden keine geringere Masse von Konsumtionsmitteln bekommen, das gesamte hergestellte Produkt eines Jahres wird durch die Produktion und Konsumtion der Kapitalisten des folgenden Jahres verwertet und verbraucht. Wollen etwa die Kapitalisten ihre eigene Konsumtion einschränken, so bildet das keine Schwierigkeit: in diesem Falle wird auch die Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten teilweise aufhören und ein noch größerer Teil des gesellschaftlichen Produktes aus Produktionsmitteln bestehen, welche zur weiteren Ausdehnung der Produktion dienen werden. Es wird z.B. Eisen und Kohle hergestellt, die zu immer größerer Vermehrung der Produktion von Eisen und Kohle dienen werden. Die erweiterte Produktion von Eisen und Kohle jedes folgenden Jahres wird die zugenommene Masse der im abgelaufenen Jahre hergestellten Produkte verbrauchen und so ad infinitum, bis der Vorrat an nötigen Mineralien erschöpft wird. [424]
Selbstverständlich besteht der Hauptpunkt seiner Analyse, wie er selber bemerkt, nicht in der
ganz willkürliche(n) und der Wirklichkeit nicht im mindesten entsprechende(n) Annahme, daß die Ersetzung der Handarbeit durch maschinelle zur gewaltigen absoluten Abnahme der Arbeiterzahl führt ... sondern (in) dem Satz, daß bei der proportionellen Einteilung der gesellschaftlichen Produktion kein Rückgang der gesellschaftlichen Konsumtion) an sich imstande ist, ein überschüssiges Produkt zu erzeugen. [425]
Tugan-Baranowskis „Lösung“ ist deshalb im Privatkapitalismus unmöglich, weil die beiden Wirtschaftssektoren voneinander abhängig sind und sich der Austausch zwischen ihnen ungeplant vollzieht.
Im Kapitalismus werden sowohl Gebrauchswerte als auch Werte produziert. Ganz unabhängig von jeder bestimmten Wirtschaftsform, besteht der Zweck von Gebrauchswerten darin, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen; dagegen ist „Akkumulation“ das Ziel der Wertproduktion. Sie ist, wie Marx es ausdrückte, „Eroberung der Welt des gesellschaftlichen Reichtumes. Sie dehnt mit der Masse des exploitierten Menschenmaterials zugleich die direkte und indirekte Herrschaft des Kapitalisten aus“.
Obwohl der Gebrauchswert den Kapitalisten nur als Träger des Werts interessieren mag, und obwohl er die Konsumtion nur als Mittel und nicht als Zweck ansehen mag, ist das Mittel nichtsdestoweniger von lebenswichtiger Bedeutung, um das Ziel erreichen zu können.
Die Konsumtion produziert die Produktion ... in dem die Konsumtion das Bedürfnis neuer Produktion schafft ... Ohne Bedürfnis keine Produktion. Aber die Konsumtion reproduziert das Bedürfnis.
Die Abhängigkeit der Akkumulation von der Konsumtion schließt ein, daß der Produktionsmittel produzierende Wirtschaftssektor von dem Konsumtionsmittel produzierenden Wirtschaftssektor abhängig ist. Im Privatkapitalismus stellt sich dieses Verhältnis ohne bewußte Planung her. Übersteigt das Kapitalgüterangebot die Nachfrage nach Kapitalgütern stärker als das Konsumgüterangebot die Nachfrage nach Konsumgütern, dann fällt relativ der Preis für Kapitalgüter. Die Profitrate geht daher in der Produktionsmittelindustrie zurück, während sie in der Konsumtionsmittelindustrie steigt. Dasselbe gilt für die Akkumulationsrate, die in der Produktionsmittelabteilung zurückgeht und in der Konsumtionsmittelabteilung ansteigt. Es kommt zu einem Kapitalstransfer von der ersten in die zweite Abteilung, bis das Gleichgewicht zwischen beiden Abteilungen wiederhergestellt ist.
Voraussetzung für diesen Prozeß ist, daß die Warenpreise frei beweglich sind, daß das Kapital ungehindert von einer Abteilung in die andere fließen kann und daß die Löhne auf Grund des erhöhten Beschäftigungsgrades in der ersten Abteilung steigen, was eine wachsende Nachfrage nach Produkten der Konsumgüterindustrie auslöst.
Diese Faktoren lassen im Privatkapitalismus keine Tugan-Baranowskische „Lösung“ zu. Trotzdem enthält das Modell vom kapitalistischen Standpunkt aus gesehen ein gesundes Element. Im Grunde stellt es die Verlängerung der Aufschwung- und Boomphase des Wirtschaftszyklus dar, in deren Verlauf die Akkumulation stärker zunimmt als die Konsumtion und die Produktion von Produktionsmitteln stärker anwächst als die von Konsumtionsmitteln. Für eine Reihe von Jahren kann die Akkumulation die Konsumtion weit übertreffen, ohne daß das wirtschaftliche Gleichgewicht gestört wird. Hinzu kommt, daß die Geschwindigkeit, mit der sich das fixe Kapital (Maschinen, Gebäude usw.) verschleißt, das Bindeglied zwischen Profit-, Akkumulations- und Beschäftigungszyklus bildet. Aus all dem läßt sich folgern, daß der Boom über den gewöhnlichen Zehn-Jahres-Zyklus hinaus anhalten würde, wenn ein Anstieg der Konsumgüterproduktion verhindert werden könnte, wobei aber gleichzeitig die Produktion von Kapitalgütern ständig zunimmt. Das ist im Staatskapitalismus möglich, da der Staat das gesamte gesellschaftliche Kapital besitzt und seine Bewegung zwischen den Wirtschaftsabteilungen lenken kann.
Ein weiterer Faktor, der im Privatkapitalismus die Wende vom Boom zur Krise auslöst, wird im Staatskapitalismus ausgeschaltet und ermöglicht für eine gewisse Zeit die Tugan-Baranowskische „Lösung“. Im Privatkapitalismus führt eine hohe Profitrate zu rascher Akkumulation, hohem Beschäftigungsgrad und hohen Löhnen. Dieser Prozeß erreicht einen Punkt, an dem die Löhne so hoch sind, daß sie die Profitrate angreifen, die daraufhin steil abfällt und Akkumulation, Beschäftigung und Löhne mit sich hinabreißt.
Die Tatsache, daß die Arbeiter „frei“ den Kaufpreis für ihre Arbeitskraft aushandeln können, sowie „die relative Überbevölkerung ist der Hintergrund, worauf das Gesetz von Nachfrage und Zufuhr der Arbeit sich bewegt. Sie zwängt den Spielraum dieses Gesetzes in die der Exploitationsgier und Herrschsucht des Kapitals absolut zusagenden Schranken ein“.
Unter einem totalitären staatskapitalistischen Regime können die Löhne, auch wenn es praktisch keine Überbevölkerung gibt und Vollbeschäftigung herrscht, sehr lange in den „der Exploitationsgier und Herrschsucht des Kapitals zusagenden Schranken“ bleiben.
Die Tugan-Baranowskische „Lösung“ ist deshalb in einem staatskapitalistischen System möglich, wenn dies im Vergleich zum Weltkapitalismus rückständig ist und sich durch Knappheit an Produktionsmitteln auszeichnet. Oberstes Gebot der Wirtschaft ist dann die Produktion von Maschinerie, um neue Maschinerie zu produzieren usw. Aber wird sich das staatskapitalistische System in dem Augenblick Überproduktionskrisen gegenübersehen, wenn es durch die Produktion von Produktionsmitteln gelingt, den Anschluß an das Produktionsniveau der übrigen Welt zu finden? Auf diese Frage kann man nur mit Bucharin antworten: daß die Ökonomie von diesem Augenblick an praktisch stagnieren wird.
Auf den ersten Blick scheint Bucharins Beschreibung des Verhältnisses von Staatskapitalismus und Überproduktionskrise das genaue Gegenteil der Tugan-Baranowskischen „Lösung“ zu sein. In Tugan-Baranowskis Modell wächst die Akkumulation unabhängig vom Konsum, bei Bucharin verläuft sie parallel zur Entwicklung des Konsums und ist vom Konsum abhängig. Doch beide Theorien haben eins gemeinsam: sie weisen beide auf den fundamentalen Widerspruch zwischen Akkumulation und Konsumtion im Kapitalismus hin. Tugan-Baranowski behauptet, dieser Widerspruch sei lösbar, indem Akkumulation und Produktion vollkommen von der Konsumtion losgelöst werden; Bucharin sieht die Lösung in einer Anpassung von Akkumulation und Produktion an das Entwicklungstempo des Konsums. Der eine sagt, daß die Produktion ruhig wachsen kann und die Akkumulation davon nur profitieren wird; der andere argumentiert, eine rasche Akkumulation sei unmöglich, und die Produktion müsse sich daher verlangsamen. Die erste Argumentation spiegelt den Boom innerhalb des kapitalistischen Zyklus wider, die zweite die Krise. Bei beiden „Lösungen“ bleibt der Arbeiter dem Kapital unterworfen.
Die Tugan-Baranowskische „Lösung“ ist in einem staatskapitalistischen System eines rückständigen Landes möglich. Bucharins Beschreibung gilt für ein staatskapitalistisches System, dessen Produktion von Produktionsmitteln einen Sättigungspunkt erreicht hat. Das wäre ein Kapitalismus, der sich trotz scheinbarer Krisenfreiheit in einer Dauerkrise befände. Denn wenn die Produktion nicht stärker als die Nachfrage steigt, bleibt sie auf die Nachfrage beschränkt. Beide „Lösungen“ sind Ausdruck des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und kapitalistischen Produktions- bzw. Verteilungsverhältnissen.
Aber außer diesen beiden „Lösungen“ gibt es einen dritten Weg, über den der Staatskapitalismus die Krise vermeiden kann: die Kriegswirtschaft.
Nach Marx zeichnet sich der Konsum der Kapitalistenklasse vor allem dadurch aus, daß er keinen Teil des Reproduktionsprozesses bildet. Die „Konsumtion“ von Produktionsmitteln (Wertminderung der Maschinerie usw.) führt zur Schaffung neuer Produktions- oder Konsumtionsmittel; der Konsum der Arbeiter reproduziert deren Arbeitskraft; nur die Produkte, die die Kapitalisten konsumieren, tragen absolut nichts für den neuen Produktionszyklus bei. Es gibt jedoch eine Form der Konsumtion, die zwar ebenfalls für den neuen Produktionszyklus nichts beisteuert, trotzdem aber ein Mittel darstellt, neues Kapital und neue Akkumulationsmöglichkeiten zu erschließen, um „die Welt des gesellschaftlichen Reichtums zu erobern und die Masse des exploitierten Menschenmaterials auszudehnen“. Das ist die Kriegsproduktion.
Wie die Überproduktionskrise läßt die Kriegswirtschaft, die ein wesentlicher Bestandteil des Kapitalismus ist, die Hindernisse der kapitalistischen Produktionsweise, die im System selbst angelegt sind, deutlich hervortreten. Darüber hinaus führt der kapitalistische Krieg nicht nur zu einem Akkumulationsstop und zur Zerstörung von Kapital in einem Ausmaß, daß eine erneute Akkumulation möglich ist; vielmehr droht infolge solcher Zerstörung die vollständige Negation des Kapitalismus und der Rückfall in die Barbarei.
Trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten bilden Kriegswirtschaft und sozialistische Wirtschaft zwei entgegengesetzte Pole. In der Kriegswirtschaft wie in der sozialistischen Wirtschaft übernimmt der Staat die Kontrolle der Wirtschaft und plant Produktion und Verteilung. In beiden herrscht Höchstproduktion. Aber solange die Verteilungsverhältnisse antagonistisch sind und eine erneute Akkumulation durch die enorme Akkumulation der Vergangenheit behindert wird, ist ein Produktionsmaximum nur zu erreichen, wenn ein großer Teil des Sozialprodukts nicht in den Austausch geht, das heißt nicht als Tauschwert produziert wird, sondern als Gebrauchswert. In einer sozialistischen Wirtschaft besteht das Ziel der Produktion in der Herstellung von Gebrauchswerten. Das ist auch in einer Kriegswirtschaft das Hauptziel. Nur werden in einer sozialistischen Wirtschaft solche Gebrauchswerte erzeugt, die die Menschen wirklich brauchen, während die Gebrauchswerte der Kriegswirtschaft aus Waffen, militärischer Ausrüstung und Kriegsvorräten bestehen, die gegen die Interessen der Menschen gerichtet sind.
Nicht eine Überproduktions-, sondern eine Unterproduktionskrise ist die unvermeidliche Begleiterscheinung der Kriegswirtschaft, da die Güternachfrage die Produktionskapazität der Wirtschaft übertrifft. Mit der Unterproduktionskrise kommt es immer zu einer mehr oder weniger schweren Inflation.
Bisher haben Kriegsvorbereitungen und Krieg für den russischen Staatskapitalismus ein so großes Gewicht, daß er sich noch nicht mit Bucharins „Lösung“ konfrontiert sah. Soweit die Wirtschaft nicht auf die Produktion von Destruktions-, sondern von Produktionsmitteln ausgerichtet ist, die ihrerseits neue Produktionsmittel erzeugen usw., folgt sie der Tugan-Baranowskischen „Lösung“. In jedem Fall bleibt die Produktion von Konsumtionsmitteln hinter der Produktion von Kriegsmaterial und Kapitalgütern weit zurück.
Angesichts der heutigen Weltlage scheint es, als sei die Kriegswirtschaft der einzige Ausweg für die russische Bürokratie bis zu dem Zeitpunkt hin, wo entweder Sozialismus oder Barbarei eine „Lösung“ der dem Kapitalismus traditioneller oder staatlicher Natur – innewohnenden Widersprüche überflüssig machen wird.
Nächstes Kapitel:
Die imperialistische Expansion Rußlands
Verzeichnis Kapitel 8
405. N. Bucharin: Imperialismus und Weltwirtschaft, Ffm 1969, S.177.
406. Marx: Das Kapital, Bd. III, a.a.O., S.254.
407. Marx, Ebda., S.277.
408. Marx, Ebda., S.501.
409. Marx, Ebda., S.252.
410. Marx, Ebda., S.268.
411. Marx, Ebda., S.409.
412. Marx: Das Kapital, Bd.I a.a.O., S.662.
413. Marx, a.a.O., Bd.II, S.185-186.
414. K. Marx: Theorien über den Mehrwert, Bd.2, Berlin 1967, S.506.
415. K. Marx: Das Kapital Bd.II, S.562, zit. nach P.M. Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung, Köln 1959, S.146.
416. Marx: Das Kapital, Bd.III, a.a.O., S.116 f.
417. Ebda., S.502-508.
418. N. Bucharin: Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals, Wien-Berlin 1926, S.80.
419. a.a.O., S.80-81.
420. Marx: Das Kapital, Bd.III, a.a.O., S.269.
421. M. Tugan-Baranowski: Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England, Jena 1901, S.25.
422. a.a.O., S.231.
423. a.a.O., S.27.
424. M. Tugan-Baranowski: Theoretische Grundlagen des Marxismus, zit. nach P.M. Sweezy, a.a.O., S.169.
425. Ebda., S.320-321; zit. nach Sweezy, a.a.O., S.169.
Zuletzt aktualisiert am 21.1.2004