August Bebel

Aus meinem Leben

Dritter Teil


Die Beratung des Sozialistengesetzes

Die Eröffnung des neugewählten Reichstags wurde im Weißen Saale des königlichen Schlosses vollzogen. Man hatte erwartet, es werde an Stelle des immer noch leidenden Kaisers der Kronprinz die Thronrede verlesen. Aber es erschien weder dieser noch der Reichskanzler. Dieses Amt übernahm vielmehr der Stellvertreter des Reichskanzlers, der Graf Otto zu Stolberg-Wernigerode.

Dieser Vorgang gab zu lebhaften öffentlichen Erörterungen Veranlassung. Man schloß daraus, der Kronprinz sei mit dem Ausnahmegesetz nicht einverstanden und habe sich deshalb geweigert, den Reichstag zu eröffnen. Bismarck hingegen habe wieder aus Ärger über diese Weigerung auf die Eröffnung verzichtet, so sei sein Stellvertreter zu dieser Ehre gekommen.

Dieser Froschmäusekrieg in den höchsten Regionen war ja immerhin interessant, aber an der Sache änderte er nichts; denn daß der Ausnahmegesetzentwurf in der einen oder anderen Form Annahme finden werde, daran konnte nach dem Ausfall der Wahlen und der Stimmung in einem großen Teile der Presse nicht gezweifelt werden.

Die Vorlage hatte vor ihrer Vorgängerin vom Mai voraus, daß sie weit gründlicher als diese durchgearbeitet war. Dagegen war ihre Begründung eine äußerst dürftige. Die verbündeten Regierungen, hieß es unter anderem in ihr, seien durch die Attentate und die vielen denselben folgenden Majestätsbeleidigungen davon überzeugt worden, daß in weiten Kreisen eine jedes sittliche und rechtliche Gebot verachtende Gesinnung herrsche, die Staat und Gesellschaft mit großen Gefahren bedrohe. Es bedürfe also gesetzlicher Vorschriften, die sich gegen die sozialdemokratische Bewegung, als die Trägerin jener Gefahren, richteten.

Es folgte alsdann eine kurze und recht oberflächliche Darstellung der sozialistischen Bewegung seit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (1863) und der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation (1864). Dieser kärglichen geschichtlichen Darstellung folgte der Abdruck der Statuten der Internationale und des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, des Eisenacher und Gothaer Programms und das Genter Manifest vom Jahre 1877. Das Statut der Internationale enthielt den Satz:

„Der erste internationale Arbeiterkongreß erklärt: daß die Internationale Arbeiterassoziation und alle ihr angehörigen Gesellschaften und Individuen Wahrheit, Recht und Sitte als die Grundlage ihres Betragens untereinander und gegen alle ihre Mitmenschen ohne Rücksicht auf Farbe, Bekenntnis oder Nationalität an erkennen.“

Dieser schöne unanfechtbare und nur zu lobende Satz wurde jetzt mit zur Begründung eines Ausnahmegesetzes verwendet. Weiter folgten Auszüge aus den Rechenschaftsberichten der Partei auf den Kongressen zu Gotha in den Jahren 1876 und 1877. Es waren alles Aktenstücke, die öffentlich erschienen und jedem bekannt waren, der sich mit der Arbeiterbewegung beschäftigte. Diese mußten jetzt als Material für den Scheiterhaufen dienen, auf dem man die sozialdemokratische Partei zu verbrennen hoffte.

Die Verhandlungen über die Vorlage begannen am 16. September unter dem Präsidium v. Forckenbecks. Der Stellvertreter des Reichskanzlers eröffnete die Debatte mit einer äußerst dürftigen Rede, die kaum fünf Minuten in Anspruch nahm. Der Reichskanzler blieb den Verhandlungen fern. Wozu sollte er sich in rednerische Unkosten stürzen bei einer Reichstagsmehrheit, die den festen Willen hatte, ihm ein annehmbares Gesetz zu apportieren?

Der erste Redner aus dem Hause war der Vertreter des Zentrums, der Abgeordnete Peter Reichensperger-Olpe. In jenen Tagen spürte das Zentrum den Kulturkampf, wenn er auch schon im Abbröckeln war, noch in allen Knochen. Ein Ausnahmegesetz, wenn auch gegen eine ihm verhaßte Partei, erschien ihm schon wegen der Konsequenzen bedenklich. Auch hätten seine Anhänger eine solche Haltung nicht verstanden, nachdem man selbst unter Ausnahmegesetzen stand. So erklärte sich Herr Reichensperger „einstweilen“ gegen Annahme und Amendierung des Gesetzentwurfes.

Anders der Abgeordnete v. Helldorf-Bedra, einer der Heißsporne der konservativen Partei. Er sprach sich mit erfrischender Deutlichkeit für den Gesetzentwurf aus und warf die Frage auf, ob es mit dem Ausnahmegesetz genug sei, ob es sich nicht auch empfehle, eine Änderung des Reichstagswahlrechtes in dem Sinne vorzunehmen, daß Garantien für ein gereifteres Alter und größere Seßhaftigkeit geschaffen werden, und ob es nicht ratsam sei, die Legislaturperioden des Reichstags zu verlängern, um der zunehmenden Unruhe des politischen Lebens ein Ende zu machen.

Der letztere Herzenswunsch fand neun Jahre später seine Erfüllung.

Nach Helldorf kam ich als erster Redner der Fraktion zum Wort. Die Fraktion war übereingekommen, das Gesetz sowohl im ganzen wie in seinen Einzelheiten nachdrücklich zu bekämpfen, und hatte zu diesem Zweck die Redner für die verschiedenen Materien bestimmt. Vahlteich und Kayser konnten sich an den Verhandlungen nicht beteiligen, sie genossen um jene Zeit Staatsquartier.

Meinem Grundsatz entsprechend, der Hieb sei die beste Deckung, ging ich der Vorlage und den Vorrednern in zweistündiger Rede zu Leibe. Zunächst gab ich eine Vorgeschichte des Gesetzentwurfes, wobei ich nachwies, daß die amtliche Darstellung mehrfach mit der Wahrheit in Widerspruch stehe. Des weiteren griff ich das willkürliche Verhalten der Polizeibehörden und die barbarischen Urteile der Gerichte in der Attentatsperiode an, Vorkommnisse, die zu den traurigsten und beschämendsten Vorgängen der neueren deutschen Geschichte gehörten und eine Schmach und Schande für das Deutsche Reich seien. (Ordnungsruf.) Alsdann behandelte ich die Geschichte der Partei. Ich wies auf die Versuche Bismarcks hin, unmittelbar nach seinem Eintritt in das preußische Ministerium, September 1862, durch seine Agenten Einfluß auf die Bewegung zu gewinnen, auf seine Verhandlungen mit Lassalle, auf die Bemühungen seines Geheimrats Lothar Bucher, Karl Marx zum Mitarbeiter am Staatsanzeiger zu werben, auf die Rolle Schweitzers im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein usw., Vorkommnisse, die deutlich zeigten, daß Bismarck von nichts weniger beseelt sei als von Abscheu gegen die Sozialdemokratie. Ihn treibe vielmehr der Ärger, daß die Partei sich seinen Plänen unzugänglich erwies und der heftigste Gegner seiner Politik wurde, was ihn bewogen habe, die Attentate, die anständigerweise niemand uns an die Rockschöße hängen könne, für ein Ausnahmegesetz gegen uns auszunutzen.

Mit dem Gesetz, so führte ich weiter aus, werde man aber den beabsichtigten Zweck nicht erreichen. Die Sozialdemokratie werde unter ihm und durch es erst recht an Anhang gewinnen. Das Interesse für sie werde zunehmen, und nicht wir, sondern unsere Gegner würden die Besiegten sein. Man solle also den Entwurf dahin verweisen, wohin er gehöre, in den Papierkorb, im Kampfe gegen uns sich aber nicht auf leere Beschuldigungen und Redensarten, sondern auf Tatsachen und Beweise stützen, die bisher nicht erbracht worden seien.

Des weiteren entwickelte ich, wie wir aller Voraussicht nach unter dem Sozialistengesetz für die Verbreitung unserer Ideen arbeiten würden, ohne daß die Polizei uns an den Leib könne, und wie die Verbreitung der verbotenen Literatur einen Umfang annehmen werde, wie wir ihn bisher nicht gekannt. Die Zukunft werde zeigen, daß das Gesetz seinen Zweck verfehle.

Meine Rede hatte, wie die Ausführungen der nachfolgenden Redner bewiesen, die gewünschte Wirkung erzielt, auch die Presse aller Parteien im In- und Ausland beschäftigte sich mit ihr. Der preußische Minister des Innern Graf zu Eulenburg, der nach mir das Wort ergriff, machte es wie sein Kollege Graf zu Stolberg-Wernigerode, er faßte sich kurz. Er begnügte sich, aus einer meiner Schriften einige Zitate vorzutragen, die beweisen sollten, daß die Partei eine Anhängerin des gewaltsamen Umsturzes sei. Im übrigen bestritt er, daß Beziehungen zwischen der Sozialdemokratie und Vertretern der Regierung bestanden hätten, oder doch nur zu einer Zeit, in der die Partei eine andere gewesen sei. Ihm sei von Vereinbarungen oder Verbindungen wie den von mir geschilderten nichts bekannt; er müsse, bis Tatsachen angeführt würden, auf die er im einzelnen antworten könne, solche Anknüpfungsversuche auf das bestimmteste in Abrede stellen. Anders der nationalliberale Abgeordnete Dr. Bamberger, der in kurzer Rede die Gefährlichkeit der sozialistischen Lehren darzulegen versuchte, aber auch mit Unbehagen konstatierte, daß man in maßgebenden Kreisen nicht allezeit der Sozialdemokratie abweisend gegenübergestanden habe, das bezeugten schon Bismarcks Beziehungen zu Lassalle. Was ich darüber gesagt, sei zum Teil schon bekannt gewesen, zum Teil aber neu. Aber auch im Staatssozialist, den Stöcker, Pastor Todt und Genossen gegründet hatten, seien Anschauungen vertreten worden, die sich mit den unserigen deckten, dort aber viel gefährlicher wirkten. Er beantragte, eine Kommission von 21 Mitgliedern einzusetzen. Das Gesetz bedürfe einer eingehenden und aufmerksamen Prüfung, denn meine Rede habe ihn überzeugt, daß kein Versuch unterlassen werden dürfe, um die Gesellschaft vor den Gefahren zu schützen, die ich ihnen vorgeführt. Bamberger, der fast zwei Jahrzehnte als politischer Flüchtling in Paris gelebt hatte, tat, als erfahre er erst durch meine Rede, was der Sozialismus sei.

Am nächsten Tage erschien Bismarck, um gegen mich zu polemisieren. Er entschuldigte sich mit seinem Gesundheitszustand, der ihn bisher genötigt habe, den Verhandlungen fernzubleiben. Aber er sei nunmehr erschienen, um der Legendenbildung, zu deren Organ ich mich gemacht, entgegenzutreten, damit sie nicht Geschichte werde. Ich habe das Wesentliche der Ausführungen Bismarcks gegen mich schon im ersten Bande (erste Auflage Seite 63ff., zweite Auflage Seite 65ff.) angeführt. Ich verweise hier darauf. Zum Schlusse seiner Rede versicherte er: Er habe erst durch meine Kommunerede (Mai 1871) die wahre Natur der Sozialdemokratie erkannt und sei von da ab unser ausgesprochener Feind geworden. Er habe auch wiederholt, wie das Haus wisse, Versuche gemacht, uns als Feinde von Staat und Gesellschaft durch gesetzgeberische Maßnahmen in die Schranken zu weisen, er sei aber damit bei dem Hause nicht durchgedrungen. Die sozialistische Presse habe gedroht und gerufen „discite moniti“. „Ihr seid gewarnt. Wovor denn gewarnt? Doch vor nichts anderem als vor dem nihilistischen Messer und der Nobilingschen Schrotflinte. Ja, meine Herren, wenn wir in einer solchen Weise unter der Tyrannei einer Gesellschaft von Banditen existieren sollen, dann verliert jede Existenz ihren Wert.“ (Beifall rechts.) Jetzt gelte es den Kaiser zu schützen. „Daß bei der Gelegenheit vielleicht einige Opfer des Meuchelmords unter uns fallen werden, das ist ja sehr wohl möglich; aber jeder, dem das geschehen könnte, mag eingedenk sein, daß er zum Nutzen, zum großen Nutzen seines Vaterlandes auf dem Schlachtfeld der Ehre bleibt.“ Die Rechte brach nach diesen Worten in einen Beifallssturm aus, wir protestierten und ich verlangte das Wort zur Geschäftsordnung, um gegen den Kanzler wegen der uns zugefügten Beleidigungen den Ordnungsruf zu fordern. Aber bereits hatte der Präsident dem alten Feuerbrand der Konservativen, Herrn v. Kleist-Retzow das Wort erteilt. Dieser wetterte gegen uns mit dem ganzen Fanatismus eines christlich-preußischen orthodoxen Junkers, der für die Vorrechte seiner Klasse kämpft. Unsere ganze Tätigkeit in Presse und Versammlungen falle unter die Vorbereitung zum Hochverrat. Unsere Gesänge seien Schlachtgesänge, unsere ganze Tätigkeit eine Vorbereitung zum Kriege. Wir raubten dem Volke die Religion, was zur Folge habe, daß das Volk schon im Diesseits nicht bloß die gleichen Rechte, sondern auch die gleichen Genüsse fordere. Er schloß seine Philippika mit einer Klage über die steigende Unzufriedenheit und mangelnde Dankbarkeit und die Verderbtheit großer Massen, die das Christentum gefährde.

Ich erhielt nunmehr das Wort zur Geschäftsordnung und forderte den Ordnungsruf sowohl gegen den Reichskanzler wie gegen Herrn v. Kleist-Retzow, der uns der Vorbereitung des Hochverrats beschuldigt habe. Der Präsident bestritt, daß die Äußerungen der Vorredner den von mir behaupteten Sinn gehabt hätten. Er müsse jeden Versuch, in seine Geschäftsführung einzugreifen, zurückweisen.

Bracke, der alsdann das Wort erhielt, sprach im Gegensatz zu dem leidenschaftlichen Charakter, den die Debatte angenommen hatte, sehr ruhig. Auf die Zitate, die der Minister des Innern und Herr v. Kleist-Retzow aus Schriften von uns vorgetragen hatten, antwortete er mit Zitaten aus den Schriften bürgerlicher Schriftsteller, die zum Teil aus der Kulturkampfzeit stammten und an Schärfe alles übertrafen, was man gegen uns anführen konnte. Auf die liberalwirtschaftlichen Theorien Bambergs antwortete er mit der sozialistischen Auffassung von Staat und Gesellschaft. Auch er erklärte, daß unsere Gegner mit der Ausnahmegesetzgebung uns nicht überwinden würden.

Nach Bracke suchte der Elsässer Fabrikant Dollfuß nachzuweisen, daß sie mit ihren sogenannten Wohlfahrtseinrichtungen in Mülhausen ein Arkanum gegen die Sozialdemokratie besäßen. Aber noch vor Ablauf des Sozialistengesetzes wurde Mülhausen durch einen Sozialdemokraten im Reichstag vertreten. Dem Elsässer folgte ein polnischer Redner, der die preußische Ausnahmegesetzgebung gegen die Polen am eigenen Leibe kennengelernt hatte. Er sprach sich scharf gegen die Vorlage aus. Das veranlaßte den ihm folgenden Herrn v. Kardorff, sich um so eifriger für sie einzusetzen. Nach einer längeren Rede Eugen Richters, worin dieser sich namentlich mit dem Reichskanzler auseinandersetzte, beschloß die Mehrheit den Schluß der Generaldebatte, wodurch mir das Wort zu einer Entgegnung auf die Rede des Reichskanzlers abgeschnitten wurde. Ich konnte ihm nur in einer persönlichen Bemerkung eine Anzahl seiner gegen mich gerichteten falschen Behauptungen und Irrtümer zurückweisen.

Das Haus beschloß entsprechend dem Antrag Bamberger, die Vorlage einer Kommission von 21 Mitgliedern zu überweisen. Es wäre eine Anstandssache, ja eine Pflicht des Hauses gewesen, in diese Kommission auch ein Mitglied der angeklagten Partei, über die entschieden werden sollte, aufzunehmen, damit dieses Rede und Antwort stehe und die unzweifelhaft notwendig werdenden Richtigstellungen vornehmen konnte. Ein Teil des Hauses war auch geneigt dazu. Auf Anfrage an die Fraktion, wen sie in die Kommission gewählt sehen wollte, wurde ich vorgeschlagen. Aber sofort setzte die Intrige gegen mich ein, und so fiel ich bei der Wahl durch.

In der Kommission kam es zu lebhaften Auseinandersetzungen. Der linke Flügel der Nationalliberalen unter der Führung Laskers versuchte wieder einmal die Quadratur des Zirkels zu entdecken. Handelte es sich auch um ein Ausnahmegesetz, so suchten sie doch nach Möglichkeit die Willkür der Polizei einzuengen. Sie wollten daher verhüten, daß die sogenannten legitimen Forderungen der Sozialdemokratie, die man später den „berechtigten Kern“ unserer Bestrebungen nannte, durch das Gesetz getroffen würden. Auch sollten andere den sozialistischen Reformbestrebungen verwandte Bestrebungen in bürgerlichen Kreisen nicht getroffen werden können. Dagegen war die rechte Seite der Kommission der Meinung, man müsse ganze Arbeit machen; man müsse der Sozialdemokratie jede Möglichkeit nehmen, ihre gefährlichen Bestrebungen unter harmlosen Formen zu verfolgen, und da müsse man zu den Verwaltungsbehörden Vertrauen haben und ihnen nicht durch unklare und zweideutige Gesetzesbestimmungen in die Arme fallen. Mit Hilfe der Gegner der Vorlage, die für alle Abschwächungsanträge stimmten, siegten Lasker und Genossen. Die Erfahrung lehrte allerdings, daß die beschlossenen Halbheiten nur Zwirnsfäden waren, durch die sich die Verwaltungsbehörden nicht einengen ließen; sie legten eben das Gesetz nach ihrem Gutdünken aus.

Die Hauptänderungen, die die Kommission und ihr folgend das Plenum annahm, waren nachfolgende: Im Gesetzentwurf hieß es, daß Vereine, Verbindungen jeder Art, auch genossenschaftliche Kassen, Versammlungen, Preßerzeugnisse, Geldsammlungen verboten, beziehungsweise unterdrückt werden sollten, sobald sich herausstellte, daß sie Bestrebungen dienten, die auf Untergrabung der bestehenden Staats-oder Gesellschaftsordnung gerichtet waren. Nach den Beschlüssen der Kommission beziehungsweise des Plenums lautete der Satz dahin, daß das Verbot oder die Unterdrückung eintreten sollte, sobald sozialistische, sozialdemokratische oder kommunistische, auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdeten Weise zutage treten.

Ein Streit um Worte. Dem Aal kann es gleichgültig sein, ob er gebraten oder geschmort werden soll.

Weiter sollte nach dem Entwurf ein Ausschuß aus sieben Mitgliedern eingesetzt werden, den der Bundesrat aus seiner Mitte wählte, an den letztinstanzlich die Beschwerden über getroffene Maßregeln der unteren Behörde zu richten seien. Kommission und Reichstag beschlossen, eine Kommission von neun Mitgliedern niederzusetzen, von denen der Bundesrat vier aus seiner Mitte wählte. Die fünf anderen sollten aus der Zahl der Mitglieder der höchsten Gerichte des Reiches oder der einzelnen Bundesstaaten entnommen werden. Der Reichstag glaubte damit eine größere Garantie gegen allzu kühne Auslegung des Gesetzes zu schaffen. Die Praxis ergab, daß er sich auch hier irrte. Die Urteile dieser Beschwerdekommission waren so reaktionär, daß wir im Jahre 1880 in Leipzig in der Parteileitung beschlossen, weil zwecklos, keine Beschwerden mehr bei ihr einzureichen.

Im § 20 des Entwurfes, später § 28 des Gesetzes, betreffend den sogenannten kleinen Belagerungszustand, war vorgeschrieben, daß in Bezirken, in denen durch die sozialistischen Bestrebungen die öffentliche Sicherheit bedroht war, sämtliche Versammlungen der polizeilichen Genehmigung unterworfen werden könnten. Kommission und Reichstag beschlossen, daß eine Ausnahme von dieser Bestimmung für die Wahlen zum Reichstag oder zu einer Landesvertretung eintreten solle. Der Senat zu Hamburg umging aber diese Vorschrift dadurch, daß er, gestützt auf eine landesgesetzliche Bestimmung, auch solche Versammlungen verbot. So konnte während der ganzen Dauer des Sozialistengesetzes, ausgenommen für die Reichstagswahl im Februar 1890, als bereits feststand, daß das Gesetz Ende September fallen würde, die Sozialdemokratie dort keine einzige Wahlversammlung abhalten. Genützt hat diese Maßregel des Hamburger Senats nichts; denn unter der Herrschaft des Gesetzes fielen sämtliche drei Wahlkreise in die Hände der Sozialdemokratie und verblieben ihr.

Eine andere Änderung und auch Verbesserung des § 20 beziehungsweise 28 bestand darin, daß über jede auf Grund des erwähnten Paragraphen getroffene Anordnung dem Reichstag sofort beziehungsweise bei seinem nächsten Zusammentritt Rechenschaft gegeben werden müsse über die Gründe, die zu ihrem Erlaß geführt. Durch diesen Beschluß wurde zwar nirgends die Verhängung des kleinen Belagerungszustandes verhindert, aber er gab uns die Möglichkeit, Jahr für Jahr bei Besprechung solcher Maßregeln die Handhabung des Gesetzes zu kritisieren. Die Sozialistengesetzdebatten wurden damit Regel.

Die zweite Beratung des Entwurfs begann im Plenum am 9. Oktober. Das Zentrum gab durch den Mund seines Vorsitzenden die Erklärung ab, es werde gegen den Gesetzentwurf stimmen. Obgleich entschiedener Gegner der Sozialdemokratie, hieß es in der Erklärung, könne es nicht einem Ausnahmegesetz zustimmen, das die Rechtssicherheit der Staatsbürger in Frage stelle, mit den verwerflichen auch berechtigte Bestrebungen treffe und das polizeiliche Ermessen an Stelle des richterlichen Urteils setze. Für ein allgemeines Rechtsgesetz, das gegenüber den immer stärker hervortretenden Gefahren im Reich eine Erweiterung des Strafgesetzes in bezug auf Ausschreitungen der Presse, der Vereine und Versammlungen herbeiführe, sei es zu haben. Auch erwarte es, daß nunmehr positive Maßregeln ergriffen würden, um den unleugbar vorhandenen und weit verbreiteten Mißständen im wirtschaftlichen und sozialen Leben, namentlich dem des Arbeiterstandes, abzuhelfen, „damit Gerechtigkeit, Gottesfurcht und Friede, insbesondere auch Friede auf dem staatlich-kirchlichen Gebiet im Reich zur vollen Herrschaft gelangen.“

Im Grunde genommen wollte also das Zentrum noch mehr, als das Sozialistengesetz ihm bot; es wollte die allgemeine Verschärfung der Gesetze, die allgemeine Reaktion.

Der erste Redner für die Vorlage war der Abgeordnete Freiherr Marschall v. Bieberstein, der spätere Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und zuletzt Gesandter in Konstantinopel und London. Marschall, eine große, stattliche Persönlichkeit, war zu jener Zeit Staatsanwalt in Mannheim, wo er als öffentlicher Ankläger auch wiederholt gegen Parteigenossen auftrat, so unter anderem gegen Franz Joseph Ehrhart. Diese Anklage gab Veranlassung zu einer heiteren Episode. Ehrhart war angeklagt, ein Plakat verfaßt zu haben, auf dem ich als Kandidat der Mannheimer Parteigenossen den Wählern des Mannheimer Wahlkreises mit den Worten empfohlen wurde, ich sei ein tapferer Volksmann, der wegen seines Kampfes für Volksfreiheit und Volksrecht zu zwei Jahren Festung verurteilt worden sei. Es handelte sich um die Reichstagswahl im Januar 1877. Herr v. Marschall sah als Staatsanwalt in dieser Behauptung eine entstellte Tatsache, wodurch eine Anordnung der Obrigkeit wider besseres Wissen verächtlich gemacht werde. Er klagte Ehrhart auf Grund des § 131 des deutschen Reichsstrafgesetzbuchs an und beantragte gegen den blutjungen Sünder eine exemplarische Gefängnisstrafe. Denn ich sei nicht wegen meines Kampfes für politische Freiheit, sondern wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt worden. Schon wollte der Gerichtsvorsitzende die Verhandlung schließen, als Ehrhart sich mit der Bemerkung das Wort erbat, daß er als Angeklagter doch auch etwas zu sagen habe. Er erhielt es, worauf er seine kurze, im reinsten Pfälzer Dialekt gehaltene Verteidigungsrede mit den Worten schloß: „Meine Herren Richter, glauben Sie dem da oben (dem Staatsanwalt) nichts, der macht aus einem Läusle einen Elefanten“. Marschall griff rasch nach der Zeitung, die er vor das Gesicht hielt, um das Lachen zu verbergen. Der Gerichtshof aber glaubte dem Staatsanwalt und schickte Ehrhart auf drei Monate ins Gefängnis. Sein späteres Verhalten sprach dagegen, daß die Strafe eine erzieherische Wirkung auf ihn ausgeübt hatte.

Im Gegensatz zu seinen scharfmacherischen Parteigenossen war Herr v. Marschall ein Gemäßigter. Er sprach sich für ein Gesetz von kurzer Dauer aus, mit dem man den beabsichtigten Zweck wohl erreiche. Ihm folgte Sonnemann, der sich gegen das Gesetz erklärte. Bismarck, der noch aus der Zeit des Krieges von 1866 einen Span auf Sonnemann hatte, antwortete diesem.

Ich bin im Zweifel, wen Bismarck persönlich mehr haßte, ob Eugen Richter oder Sonnemann. Ich glaube den letzteren, denn Eugen Richter war trotz aller Opposition immer ein guter Preuße, aber in Sonnemann haßte er den süddeutschen Antipreußen, den „Republikaner“, von dessen Organ der Frankfurter Zeitung, er behauptete, daß es mehr mit der französischen Republik als mit dem Deutschen Reich sympathisiere. So kam es denn, daß, als bei der Reichstagswahl im Jahre 1884 Sonnemann mit unserem Kandidaten Sabor in die Stichwahl kam, Bismarck auf eine Anfrage der Frankfurter Nationalliberalen, wen sie wählen sollten, antworten ließ: „Fürst wünscht Sabor.“ Und Sabor wurde gewählt.

Bismarck hatte, wenn er einmal in Kampfstimmung war – und an jenem Tage besaß er sie –, die Gepflogenheit, sich wenig an den zur Beratung stehenden Gegenstand zu halten. Um seinem Herzen Luft zu machen, sprang er alsdann von einem Gegenstand zum anderen und schlug auf den Gegner los, der ihm im Wege stand. Oftmals zur Verzweiflung des Präsidenten, der nicht wagte, ihn zu unterbrechen, dann aber auch nicht verhindern konnte, daß die Angegriffenen sich wehrten und so eine Debatte entstand, die weit über den Rahmen des zu verhandelnden Gegenstandes hinausging. So auch diesmal.

Nachdem er sich mit Sonnemann auseinandergesetzt, rückte er uns zu Leibe. Ehemals sei Frankreich das Versuchsfeld für den Sozialismus gewesen; nach dem Niederschlagen der Kommune sei es Deutschland geworden. Dann klagte er: die Deutschen seien geborene Kritiker, die an der Diskreditierung der Behörden und Institutionen ihre helle Freude hätten. Das treffe namentlich auf die Fortschrittspartei zu, die in den großen Städten den Boden für uns gelockert habe; sie sei die „Vorfrucht der Sozialdemokratie“. Dann fiel er aufs neue über uns her, verurteilte die Art unserer Agitation und wie wir die Massen in unser Garn lockten. Weiter klagte er über die Milde unserer Strafgesetzgebung, die Gutmütigkeit der Richter, über die Freizügigkeit, die Verführung der Massen durch die Vergnügungen in den großen Städten. Seine Rede war eine Jeremiade, die den Junkern und Junkergenossen aus der Seele kam. Aber sie enthielt keine Spur von staatsmännischer Einsicht in das Wesen und Getriebe der bürgerlichen Welt, in dem doch die Wurzeln liegen für all das, was er beklagte, und das die Sozialdemokratie zu einer naturnotwendigen Erscheinung des öffentlichen Lebens machte, mit der er rechnen mußte.

Des weiteren klagte er über die Spaltungen in den bürgerlichen Parteien, über den Mangel an Vertrauen und Entgegenkommen von jener Seite. Seine Rede klang in die Aufforderung aus, sich zu einer Phalanx zusammenzuschließen, die sich in allen Teilen gegenseitig vertraue, so daß das Reich allen Stürmen gewachsen sei und ihnen einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen vermöge. Diese Aufforderung war nach alledem, was sich Bismarck selbst im gegenseitigen Ausspielen der Parteien geleistet und sich selbst noch in dieser Rede zur Erreichung seiner Zwecke geleistet hatte, dem Hause doch ein zu starkes Stück. Er schloß seine Rede ohne das geringste Zeichen von Beifall.

Den nächsten Tag erhielt Hasselmann Gelegenheit, auf die Angriffe und Provokationen Bismarcks zu antworten. Er tat dies in einem großen Teil seiner Rede mit unleugbarem Geschick. Zum Schlusse verfiel er aber selbst in eine Provokation. Auf den Angriff Bismarcks in seiner vorletzten Rede gegen mich antwortete Hasselmann: Wir schleifen keine Dolche für den Fürsten Bismarck, wir verachten den Dolch, der von hinten trifft; wenn wir kämpfen, kämpfen wir Brust an Brust, aber wenn man für uns Kugeln gießt und Bajonette schleift, dann sagen auch wir: „Wenn wir in einer solchen Weise unter der Tyrannei einer Gesellschaft von Banditen existieren sollen ...“ Darauf großer Sturm in der Versammlung. Der Präsident rief Hasselmann zur Ordnung wegen angeblicher Provokation zum Aufruhr. Hasselmann fuhr fort: „Nicht ich bin es, der provoziert; ich habe zur Genüge gesagt, daß ich den Weg des Friedens vorziehe (Lachen), ja ich ziehe ihn vor; ich bin aber auch bereit, mein Leben zu lassen. Fürst Bismarck möge auch einmal an den 18. März denken.“

Löwe-Kalbe, der Hasselmann als Redner folgte, äußerte: Ich danke dem Herrn Redner, daß er das System Bebel in der Verteidigung seiner Sache verlassen hat und offen mit der Sprache herausgegangen ist. Herr v. Bennigsen, der jetzt ebenfalls das Wort ergriff, suchte durch lange Ausführungen den vernünftigen Standpunkt, den er bei der ersten Ausnahmegesetzvorlage nach dem Hödel-Attentat eingenommen hatte, zu verwischen. Er sagte jetzt: Vater, verzeihe mir.

Im Verlauf der zweiten Lesung wurden die Debatten immer erregter. Die gesamten bürgerlichen Parteien schickten ihre besten Kräfte vor, um ihren Standpunkt zu verteidigen. Von unserer Seite nahmen Bracke, Fritzsche, Hasselmann, Liebknecht, Reinders und ich, die meisten von uns mehreremal das Wort. Eine lebhafte Szene rief Bracke hervor bei Beratung des § 4 der Vorlage, der später § 8 des Gesetzes wurde, der von der Auflösung der Vereine handelte und die Bestimmung enthielt, daß die Beschwerde gegen ein Verbot eines Vereins keine aufschiebende Wirkung habe. Gegen diese Bestimmung sprach sich Bracke in seiner kurzen Rede besonders scharf aus. Dann plötzlich aus der Konstruktion der Rede fallend, rief er in den Saal hinein: „Meine Herren, ich will Ihnen sagen, wir pfeifen auf das ganze Gesetz!“

Wir brachen in stürmischen Beifall aus, der größte Teil des Hauses tobte vor Entrüstung, und der Präsident erteilte Bracke einen Ordnungsruf; draußen aber im Lande jubelte die Partei über diese drastische Kennzeichnung unserer Stellung zum Gesetz.

Am 18. Oktober begann die dritte Lesung des Gesetzentwurfs. Der Abgeordnete v. Schorlemer Alst erklärte sich namens des Zentrums noch einmal scharf gegen den Entwurf: Wer wie wir unter solchen Ausnahmegesetzen gestanden hat, kann nun und nimmermehr für ein Ausnahmegesetz stimmen. Das war schön gesagt. Es kam aber bei späteren Beratungen über die Verlängerung des Gesetzes anders; auch im Zentrum fanden sich immer mehr Stimmen für dasselbe, oder man blieb der entscheidenden Sitzung fern, um eine Mehrheit für die Verlängerung zu sichern.

Von unserer Seite nahm noch einmal Liebknecht das Wort, um in nachdrücklichster Weise das Gesetz zu bekämpfen, wohl wissend, wie er gleich bei Eingang seiner Rede bemerkte, daß die Würfel der Entscheidung bereits gefallen seien. Er rede nur, um seine Pflicht zu tun. Er schloß mit den Worten: „Der Tag wird kommen, wo das deutsche Volk Rechenschaft fordern wird für dieses Attentat an seiner Wohlfahrt, an seiner Freiheit, an seiner Ehre“. Den 19. Oktober fanden zwei Sitzungen statt; die Mitglieder drängten, nach Hause zu kommen. Die erste wurde um 10 Uhr 30 Minuten, die zweite um 2 Uhr 15 Minuten eröffnet. Die letztere diente ausschließlich der namentlichen Abstimmung. Während derselben herrschte atemlose Stille. Alsdann verkündete der Präsident das Resultat. Es hatten an der Sitzung 370 Abgeordnete teilgenommen – das Haus zählt 397 –, von denen 221 mit Ja, 149 mit Nein stimmten. Das Mehr betrug also 72 Stimmen. Alsdann erhob sich Bismarck und verlas die kaiserliche Botschaft, durch die die Session geschlossen wurde. Aber er begnügte sich nicht damit; er richtete an das Haus noch eine Ansprache. Er gebe der Befriedigung Ausdruck, äußerte er, daß ungeachtet großer Meinungsverschiedenheiten, die sich zu Anfang der Beratung herausgestellt hätten, eine für alle zustimmenden Teile befriedigende Lösung gefunden worden sei. Sollte das Gesetz im Verlauf seiner Wirksamkeit ergeben, daß es seinen Zweck nicht erreiche, so würden sich die verbündeten Regierungen wieder vertrauensvoll an den Reichstag wenden, um entweder eine Verschärfung des Gesetzes oder eine Reform der Allgemeingesetzgebung, die er für den besseren Weg halte, zu erreichen. Die verbündeten Regierungen hegten alsdann die Hoffnung, daß, nachdem sie durch loyale Handhabung des Gesetzes das Vertrauen des Reichstags gerechtfertigt hätten, die Hilfe und der Beistand des Reichstags ihnen nach Maßgabe der Bedürfnisse nicht fehlen werden. Die Versicherung, man werde das Gesetz loyal handhaben, klang wie Ironie. Ein Gesetz, das dem Ermessen der Behörden alle Tore und Türen öffnete, war ein Freischein für die Willkür. Das sollte sich bald genug zeigen. Und Bismarck war der erste, der jede Willkürmaßregel, sobald sie sich gegen uns richtete, verteidigte und rechtfertigte.

Nachdem er alsdann die Sitzungen des Reichstags für geschlossen erklärt hatte, brachte der Präsident das übliche Hoch auf den Kaiser aus. Wir hatten uns mittlerweile aus dem Saal entfernt und verließen, wenn auch als Geschlagene, guten Mutes das Haus, hoffend, der Tag werde kommen, wenn auch erst nach schwerer Zeit, an dem wir als Sieger zurückkehrten. Ich leugne nicht, mich packte der Ingrimm, als ich nach Hause fuhr. Ich nahm mir in jener Stunde vor, soweit es an mir läge, alles aufzubieten, um die Wirksamkeit des Gesetzes zu durchkreuzen, und ich habe mein mir gegebenes Wort redlich gehalten.

Unsere Feinde hatten es eilig. Am nächstfolgenden Tage wurde bereits das Gesetz verkündet. Es trat den 21. Oktober in Kraft.



Zuletzt aktualisiert am 1.7.2008