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Die Zeit (Wien), 11. Juli 1896, Bd. 8 Nr. 93, S. 20–22.
Der Artikel führte zu einer längeren Auseinandersetzung mit Karl Kautsky in der Neuen Zeit, welcher im englischsprachigen Bax-Archiv nachgelesen werden kann.
Transkription, Modernisierung der Rechtschreibung u. HTML-Markierung: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive
Die materialistische Anschauung der geschichtlichen Entwicklung geht von de Satze aus, dass das gesellschaftliche Leben der Menschheit in allen seinen Beziehungen, also auch den moralischen, geistigen und künstlerischen, entweder die unmittelbare Wirkung der ökonomischen Bedingungen, d.h. der Bedingungen der Produktion und des Austausches der Produkte, oder deren ideelle Rückspiegelung darstellt.
In ihrer schärfsten Form genommen, besagt also diese Anschauung nichts weniger, als dass Sitte, Religion und Kunst durch die ökonomischen Bedingungen nicht etwa nur beeinflusst werden, sondern dass sie ganz allein dem Gedankenreflex eben diese Bedingungen im sozialen Bewusstsein entspringen. Mit einem Worte, die wesentliche Grundlage alles Geschehens seien die materiellen Güter, ihre Produktion und ihr Austausch: Religion, Moral, Kunst zufällige Erscheinungsformen, deren Äußerungen sich direkt oder indirekt auf ökonomische Ursachen zurückführen lassen. [1]
Ohne Zweifel kommt diese Anschauung der Wahrheit unendlich viel näher, als die früher herrschende Lehre, dass die philosophische Erkenntnis, welche einer bestimmten Periode ihren Stempel aufdrückt, den maßgebenden Einfluss auf die Geschichte der Menschheit ausübe. Allein diese Tatsache berechtigt und noch keineswegs, die ökonomischen Bedingungen als die einzige Determinante des Fortschrittes zu betrachten, wie gewisse Verteidiger der materialistischen Geschichtsauffassung behaupten. Wollen die Bekenner dieser Lehre leugnen, oder wissen sie nicht, dass die menschliche Natur eine Synthese in sich einschließt, und als solche mehr als ein Element voraussetzt? Glauben sie wirklich, dass sie durch die Zurückführung einer psychologischen oder gesellschaftlichen Erscheinung auf ihre früheste Äußerung – sei es selbst zurück bis zu einer früheren tierischen Form oder dem einfachen organischen Gewebe – die Wesenheit, die „wahre Innerlichkeit“ der fraglichen Erscheinung entdeckt haben? Es ist ein Trugschluss, wenn sie behaupten, dass die einfache Zurückführung eines Dinges bis zu seinem ersten Anfängen der Zeit nach mit Notwendigkeit seine Wesensbedeutung oder seine endliche Wichtigkeit berühre.
Die Debatte, die vor einiger Zeit in Paris zwischen Jaurès und Lafargue über dieses Thema stattgefunden hat, bietet hierfür ein hübsches Beispiel. Jaurès behauptete – es ist für unseren Zweck gleichgültig, ob mit Recht oder nicht – das die Ideen der Gerechtigkeit und Gleichheit sich in den frühesten geistigen Entwicklungsstufen der Menschheit nachweisen ließen und dass die geschichtliche Entwicklung in de Fortschritte dieser Ideen sich darstelle, die natürlich durch die ökonomischen Bedingungen modifiziert seien. Hierauf erwidert Lafargue, dass sein Gegner ehr beweisen müsste: nämlich die Existenz dieser Ideen beim Affen, und selbst bei der Auster. Es erscheint mir schwer zu sein, Lafargue hierauf zu antworten. Denn Jaurès hat nicht von der Auster, ja nicht einmal vom Affen gesprochen, sondern von der menschlichen Gesellschaft. Er behauptete nicht mehr, als dass gewisse ethische Anschauungen und Tendenzen als solche zuerst klar und bestimmt auf den ersten Stufen der Entwicklung des Menschen als sozialen Wesens sich offenbaren, dass sie oft verdunkelt werden, aber niemals gänzlich verschwinden und dass sie ihre Erfüllung im Sozialismus erreichen werden.
Und ferner – da der Satz in der Soziologie nicht weniger gilt als überall sonst: „natura non facit saltum“, - so kann niemand, falls die Annahme Jaurès richtig ist, leugnen wollen, dass ein den Idealen der Gerechtigkeit und Gleichheit korrespondierendes Etwas bei den Affen gefunden werden könnte, analog den beim Menschen entwickelten Tendenzen. Nichts hindert, dieses Räsonnement auf die Auster anzuwenden, oder selbst auf die unorganische Materie. In der Reizbarkeit, der Reaktion des Körpers der Moluske auf den Reiz, und der, wie wir glauben, ihn begleitenden Sensibilität besitzen wir unzweifelhaft den direkten Vorläufer der selben Bedingungen für die Vorrausetzung moralischer, intellektueller und künstlerischer Impulse wie beim Menschen. Die einfache bewusste Reflexhandlung der Moluske repräsentiert ohne Frage in diesem Stadium der Entwicklung das höhere nicht minder als das tiefere Bewusstsein der Menschheit – sie enthält alle diese Tendenzen implizite, sozusagen in potentia. Aber die Tatsache allein, dass im Zeitablauf ein Ding de anderen vorhergeht, sagt und nichts über die Natur des höheren Bewusstseins und der bewussten Willensäußerung oder der nur unbewussten Empfindung und Reflexhandlung, und noch weniger über die letzten Formen des menschlichen Bewusstseins, die in der Zukunft verborgen liegen.
Das Bestreben, das Ganze des menschlichen Lebens auf ein Element allein zurückzuführen, alle Geschichte auf der Basis der Ökonomie zu erklären, übersieht, wie schon bemerkt, die Tatsache, dass jede konkrete Realität zwei Seiten haben muss, eine materielle und eine formale, also wenigstens zwei Grundelemente. Denn im Gegensatze zur Abstraktion besteht die reale Wirklichkeit in einer Synthese. Der Versuch, die Vielseitigkeit des menschlichen Lebens aus einem Elemente zu entwickeln, und sei dieses auch noch so bedeutsam, erinnert an das Bemühen der vorsokratischen Philosophen, die Natur auf ein Element zurückzuführen: Wasser, Feuer Luft. Seit Plato und Aristoteles haben die Griechen diesen Versuch selbst bezüglich der äußeren Natur aufgegeben. Und heute wollen die extremen Partisane der materialistischen Geschichtsauffassung die ökonomischen Grundlage in der Art der alten griechischen Hypozoisten als „Quelle und Ursprung“ aller Dinge hinstellen. Als ich einmal einem hervorragenden Bekenner dieser äußersten Richtung bemerkte, „es gebe noch viele Dinge im Himmel und auf Erden, von denen seine Weltweisheit sich nichts träumen lasse“, das es moralische, intellektuelle und ästhetische Tatsachen des Lebens gäbe, die sich nicht, auch noch so weit zurück nicht, auf rein ökonomische Ursachen zurückführen ließen, antwortete er bezeichnender Weise: „Woher sonst kommen sie denn also? Sie fallen doch nicht vom Himmel.“ Die Unmöglichkeit, dass es außer der psychologischen Rückspiegelung und dem „Vom-Himmel-Fallen“ noch ein Drittes geben könne, dass man weder die eine noch die andere Lösung des Dilemmas akzeptieren müsse, war für meinen Freund feststehend. Ist dieser Standpunkt nichts ausnehmend naiv?
Wie ich glaube, verlangt die besprochenen Theorie eine Verbesserung in dem folgenden Sinne: Die spekulativen ethischen und künstlerischen Fähigkeiten des Menschen existieren als solche in der menschlichen Gesellschaft, wenn nicht unentwickelt, von Anbeginn an, und sind nicht bloß Produkte der materiellen Faktoren des menschlichen Daseins, obwohl ihre Äußerungen zu jeder Zeit in der Vergangenheit immer in geringem und sehr oft in bedeutendem Maße durch diese Faktoren modifiziert wurden. Die ganze Entwicklung der Gesellschaft ist in einem weit höherem Grade durch die materiellen Grundlagen beeinflusst worden, als durch irgend eine spekulative, ethische oder künstlerische Ursache. Aber dies ist nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, dass jede solche „ideologische“ Ursache sich in eine rein materielle Bedingung auflösen lasse. Ich bestreite, dass irgend ein Beweis für die Möglichkeit erbracht worden ist, auch nur eine Epoche machende moralische, spekulative oder ästhetische Anschauung als Produkt rein ökonomischer Umstände zu erklären. Diese mögen hinzutreten, ihre Realisierung beeinflussen, aber niemals ist gezeigt worden, dass sie auf diese Weise anders als nur teilweise begründet werden kann. Das gilt ebenso von jedem geschichtlichen Ereignisse und jeder Periode: auch hier ist es niemals gelungen, sie erschöpfend als Produkt gegenwärtiger oder vergangener materieller Bedingungen darzustellen, obwohl ich zugebe, dass es in gewissen Fällen und für praktische Zwecke in hinreichendem Maße geschehen ist. Die Gesellschaft hat eine bestimmte ökonomische Entwicklung, aber sie besitzt auch eine bestimmte geistige Entwicklung, und es ist in der Wechselwirkung beider, dass die soziale Evolution in ihrer konkreten Gestaltung resultiert.
Zudem wird von den Vertretern dieser Theorie gewöhnlich eine wichtige Unterscheidung übersehen, nämlich zwischen negativer Bedingung und positiver Ursache. Neue materielle Bedingungen, welche frühere Hindernisse der Entwicklung einer Idee beseitigt haben, können nicht als Ursachen dieser Idee bezeichnet werden. Die Entfernung dieser Hindernisse mag unerlässlich sein für die Realisierung einer Idee oder eines Ideales, aber: sie ist ebenso wenig Ursache, als die Hinwegräumung des mechanischen Hindernisses für den geraden Wuchs eines Baumes die Urasche seiner normalen Entwicklung ist. Die Geschichte bietet hierfür Beispiele genug. Ich geben vollständig zu, dass die eigentümliche Form einer Bewegung, sei sie nun intellektuelle, ethische oder künstlerische, durch die materiellen Verhältnisse der Gesellschaft wird, in welcher sie Leben und Gestalt gewinnt, aber sie wird ebenso bestimmt durch die fundamentalen psychologischen Tendenzen, von welchen sie erzeugt worden ist. Das Denkvermögen z.B. die Kraft der Generalisierung, der Darstellung der Ereignisse als Ursache und Wirkung können gewiss nicht auf die „psychologische Rückspiegelung der ökonomischen Bedingungen“ zurückgeführt werden, selbst wenn bewiesen wäre, dass der erste Anreiz zu ihrer Ausübung ihnen geschuldet und dass ihre Resultate durch den Einfluss derselben modifiziert worden sind. Die Urteilskraft verallgemeinert gewisse äußere Eindrücke, führt sie auf eine allgemein anwendbare Regel zurück, mit einem Worte erklärt sie. Sie beschäftigt sich zunächst mit den Phänomenen der Welt, wie sie sich darstellen. Ihre ersten Hypothesen sind noch roh, aber was ihnen zugrunde liegt, ist eine naive Beobachtung der äußeren Natur weit eher, denn Reflexion ökonomischer Bedingungen. Und so ist die Philosophie das Resultat zuerst der Beobachtung der äußeren Naturvorgänge und später der Analyse der Elemente des Bewustseins, in welchen und durch welche die Natur gegeben ist.
Eine Pflanze setzt bestimmte Bedingungen voraus: Boden, Klima, Feuchtigkeit, damit der Samen Wurzel fassen und gedeihen könne. Aber nicht Boiden und Klima sind die Pflanze, der Samen selbst ist die Pflanze und trotz des Umstandes, dass Boden, Klima und andere Verhältnisse eine geringere oder größere Rolle bei der Veränderung der Pflanze und dann wieder des durch die Pflanze erzeugten Samens usf. bis in die Unendlichkeit spielen. Spürt nun zurück, soweit ihr könnt, geht allen Modifikationen bis ins Unendliche nach, ihr werdet doch nie zu dem Punkte kommen, bei dem Boden und Pflanze eines geworden sind. Das Doppelelement von Keim und Boden bleibt durchgehends. Und ebenso in der menschlichen Entwicklung. Spürt zurück, soweit, soweit ihr könnt, ihr könnt dich niemals die beiden letzten Elemente entfernen. Immer gelangen wir zu der gegenseitigen Bestimmtheit äußerer materieller Bedingungen und inneren „ideologischen“ Antriebes. In jeder konkreten menschlichen Gesellschaft findet sich unzertrennlich die Wechselwirkung dieser beiden Elemente, selbst in der frühesten und einfachsten. Die Ausscheidung eines der beiden führt zur Abstraktion.
Wir kommen zu der wichtigen Frage, in welchem Verhältnisse zu einander sie in den verschiedenen Perioden wirksam sind. Dass das eine zeitweilig sehr bedeutend vorwiegen kann und dass dieses eine durch die ganze menschliche Geschichte das materielle Element gewesen, ist heute wohl unbestreitbar. Aber selbst in den Perioden, für welche wir eine geschichtliche Überlieferung besitzen, finden wir – und das ist ebenso unbestreitbar – bestimmte Abschnitte, in welchen das „ideologische“ Element das andere überwiegt. Das sind die Zeiten, in denen spekulativer Glaube von seinen Bekennern als so wahr genommen wird, dass er die Bedeutung der materiellen Interessen des Lebens zurückdrängt. Dahin gehören die ersten Anfänge des Christentums. Es ist natürlich die Tendenz des materiellen (und im besonderen des ökonomischen) Faktors, sich geltend zu machen, sobald größere Massen in Betracht kommen, und das war in erhöhtem Grade der Fall nach dem ersten Jahrhunderte der Existenz des Christentums. Ähnliches gilt von den religiösen Bewegungen der Reformation. In der Entwicklung des Christentums während der ersten zweit Generationen spielten die materiellen Bedingungen eine sehr untergeordnete Rolle, ja fast nur eine rein negative. Ebenso war in den frühen häretischen Bewegungen des Mittelalters das spekulative Element durchaus überwiegend. Abgesehen auch von dem besonderen Falle eines unerschütterlichen spekulativen Glaubens lassen sich in dem verschiedenen Perioden der Geschichte beträchtliche Schwankungen in dem verschiedenen Verhältnisse des Einflusses der „ideologischen“ und der materiellen Faktoren nachweisen. Hier entsteht nun die Frage, ob es möglich ist, ein Gesetz dieser Schwankungen zu formulieren.
Lässt das Prinzip sich erkennen, von welchem sie abhängen? Ich glaube, dass es in der relativen Sicherheit der Lebensbedürfnisse der Volksmassen zu suchen ist. Als körperliches Wesen ist der Mensch angewiesen auf Nahrung, Kleidung, Wohnung, Gerätschaften usw. Daher ist die Grundlage der sozialen Entwicklung notwendig eine materielle. Die Sicherstellung jener Gegenstände ist die oberste Aufgabe jeder Gesellschaft, ihr sine qua non. Wo demnach die Existenzmittel unzureichend oder gefährdet sind, spielt ihre Gewinnung im menschlichen Bewusstsein die erste Rolle und behauptet den hervorragendsten Platz. Die edleren menschlichen Fähigkeiten setzen die Erfüllung der niedrigeren voraus. Solange die tierischen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, müssen sie immer den ganzen Horizont des Bewusstseins vollständig umfassen, unablässig sind die Gedanken von ihnen eingenommen. Das gilt für den Asketen ebenso wie für den gewöhnlichen Menschen, nur in umgekehrter Form. Der Asket beschäftigt sich mit seiner tierischen Natur, indem er sie zu ertöten sucht, in demselben Grade wie der gewöhnliche Mensch, der ihr genüge leisten will. Von der natürlichen Grundlage aller Dinge sich freimachen, ist unmöglich.
Besteht also Mangel and den notwendigen materiellen Lebensmitteln, die Schwierigkeit sie zu beschaffen, die Unsicherheit sie zu behalten, so ist, mutatis mutandis, die Vorherrschaft des ökonomischen Faktors eine Notwendigkeit. Nun waren im ganzen Verlaufe der Geschichte für große Klassen der Gesellschaft, meistens für die Wahrheit, eine oder mehrere der genannten Bedingungen, und deshalb haben auch im ganzen Verlaufe der Geschichte die „ideologischen“ Erzeugnisse durch die materiellen Ursachen die Farbe und selbst die Form erhalten. Ich möchte hier wiederholen, was ich schon an einem anderen Ort ausgeführt habe [2], dass nämlich drei Bedingungen zutreffen müssen, wenn die Ökonomie als die primäre Treibkraft des Fortschrittes wirksam werden soll: eine Klasse, welcher die Befriedigung der Bedürfnisse des Lebens in dem Maße, dessen eine andere Klasse sich erfreut, versagt oder wenigstens nicht gesichert ist; das Bewusstsein, das in dieser Klasse von ihrer eigenen Inferiorität und der Unsicherheit ihrer Lage lebt; die Überzeugung, durch gemeinsame Aktion als Klasse die entbehrten Güter des Genusses, der Ruhe und Sicherheit erreichen zu können. Das sind die Bedingungen, unter denen die ökonomische Bewegung in der Geschichte sich fühlbar macht, das die Bedingungen, unter denen sie fühlbar werden muss, wenn sie eine Klasse betreffen, welche die Majorität oder auch nur eine bedeutende Minderheit des Volkes bildet. Dies kann in bewusster oder in unbewusster Weise geschehen. In dem letzteren Fall mögen die Menschen glauben, dass sie durch politische oder religiöse Motive geleitet werden, während sie tatsächlich unter dem Einflusse der Erwägung der materiellen Wohlfahrt und des Gedeihens ihrer selbst und ihrer Klasse handeln. In der Vergangenheit hat das oft genug sich ereignet: heute aber ist im Gegensatze dazu der Mantel der Religion die bewusst oder unbewusst gebrauchte Hülle.
Fassen wir nun die Ansicht zusammen, die ich im Gegensatz zu der extremen Richtung der materialistischen Geschichtsauffassung hier vertreten habe. Für diese sind die menschlichen Angelegenheiten einzig und allein durch äußere physische Ursachen bestimmt, ebenso wie für den entgegengesetzten Standpunkt einzig und allein durch innere, psychologische oder idealistische Ursachen. Beide Ansichten halte ich für einseitig und darum für irrig, wenn auch die erstere der Wahrheit viel näher kommt; denn im Verlaufe der ganzen bisherigen geschichtlichen Entwicklung bis auf die Gegenwart war der Einfluß der physischen, der ökonomischen Bedingungen unzweifelhaft der überwiegende, während er heute so übermächtig ist, dass selbst der kurzsichtigste Beobachter ihn erkennen muss. Gerade dieser Umstand hat dazu beigetragen, die extrem materialistische Anschauung zu verbreiten. Und freilich ist es für uns, die wir in einer Periode leben, in der die ökonomischen Bedingungen alle anderen Rücksichten in den Hintergrund drängen, schwierig, eine Zeit zu verstehen, in der das nicht der Falls war. Dass Kinder dieser Welt Lehren der Theologie jemals mit so unerschütterlichem Glauben sollen angenommen haben, um durch sie ihre Handlungen beeinflussen zu lassen, dass Ritterlichkeit, Lehenstreue, das Gefühl der Stammverwandtschaft jemals so stark gewesen sein sollen, um alle anderen Äußerungen des Lebens zurückzudrängen, erscheint dem modernen Menschen unfassbar. Freilich wird darauf erwidert werden, dass alle diese Dinge in ihrem Ursprunge selbst das Resultat ökonomischer Bedingungen waren. So wie nach dem Sprichworte der Kirchtum von den Tenterden die Ursache der Versandung der benachbarten Küste sein muss, weil sie seit Menschengedenken immer zusammen bestanden haben.
Allerdings muss eine ideologische Anschauung, wenn sie Früchte tragen soll, in den entsprechenden ökonomischen Boden gepflanzt werden, aber dieser ökonomische Boden ist als solcher nur eine negative Bedingung. Das aktive, zeugende Element liegt im Samen, das ist in der „ideologischen“ Anschauung. Und soweit der Sozialismus eine bewusste Bewegung ist, trifft das auch auf ihn zu. Um bei unserem Bilde zu bleiben: der ökonomische Boden allein genügt nicht, um einen Wechsel herbeizuführen. Das wird deutlich durch die Tatsache erwiesen, dass die weitaus mächtigste sozialistische Partei auf deutschem Boden entstanden ist und nicht in England oder in den Vereinigten Staaten, wo doch die Großindustrie sich früher entfaltete und weit stärker entwickelt ist. In Deutschland fand der psychologische und ideologische Faktor, nämlich der Einfluß der sozialistischen Lehre auf eine gebildete Bevölkerung, ökonomische Bedingungen vor, die wenigstens im Anfange relativ ungünstig, und ein großes Resultat ist gezeitigt worden. In England fehlte der psychologische Faktor oder war nur wenig entwickelt, und obwohl die ökonomischen Bedingungen zehnmal günstiger waren, folgte doch überhaupt kein oder nur ein sehr schwächliches Resultat. Das ist doppelt bezeichnend in einem Zeitalter und in einer Bewegung, in welcher die ökonomischen Verhältnisse die wichtigste Rolle spielen und spielen müssen. Wir haben eine Lehre, welche auf der Ökonomie aufgebaut ist und verkündet, dass die Entwicklung der Großindustrie mit Notwendigkeit zum Sozialismus führe – dennoch ist diese Lehre gerade in jenen Ländern, in welchen die ökonomischen Bedingungen am meisten fortgeschritten sind, wie in England und in den Vereinigten Staaten, weniger anerkannt, als auf de europäischen Kontinente, wo die Großindustrie ein vergleichsweise neues Gewächs ist. Das Proletariat ist größer und vermutlich das Elend tiefer in den großen Städten Englands und Amerikas, und doch hat der Sozialismus in England und in Amerika mit der Apathie der arbeitenden Klassen zu kämpfen. Die ökonomischen Bedingungen, mag ihr Druck noch so hart empfunden werden, verlangen den befruchtenden Einfluss eines Ideales und Enthusiasmus, bevor sie eine große Bewegung, geschweige denn eine neue Gesellschaft erzeugen können.
Ich habe schon darauf hingewiesen, wie der verhältnismäßige Anteil jedes der beiden Elemente zu verschiedenen Zeiten verschieden ist, und angedeutet, welches Gesetz meiner Meinung nach diesen Wechsel regiert. Ich habe zugegeben, dass gegenwärtig die ökonomischen Bedingungen alle anderen Erwägungen im menschlichen Geiste dermaßen zurückdrängen, dass sie dem oberflächlichen Beobachter als der einzige Faktor des Fortschritts sich darstellen können. Aber trotz dieser augenblicklichen überwältigenden Vorherrschaft haben wir gesehen, dass die „ideologische“ Fähigkeit des Menschen – ich möchte sie den ursprünglichen psychologischen Antrieb nennen – die Resultate des äußeren ökonomischen Druckes zuerst in die Form eines Ideals bringen und umgestalten muss, bevor der Fortschritt wirklich sich Bahn brechen kann. Geschieht dies nicht, dann windet der ökonomische und damit der soziale Fortschritt sich langsam dahin, wie ein Fluss im Marschland. Weil der ökonomische Faktor des Fortschrittes bisher in den meisten Perioden der Geschichte der führende gewesen ist, so folgt noch keineswegs, dass dem immer so sein wird. Im Gegenteile. Denn falls das von mir entwickelte Gesetz des Verhältnisses, in welchem die beiden Elemente der sozialen Evolution gegenseitig stehen, richtig ist, so ist damit gegeben, dass die Überwindung der Klassengesellschaft, d.h. des Monopolbesitzes eines kleinen Teiles des Volkes an den wichtigsten Gütern und des Ausschlusses der großen Massen, die Aufhebung der einen Kraft bedeutet, welche bisher Richtung der menschlichen Angelegenheiten bestimmt hat. In der Zeit der Klassenherrschaft überwältigt die äußere Kraft (die ökonomischen Bedingungen) (die innere) das ideologische Element, bestimmen die materiellen Verhältnisse die psychologischen Triebe. Das muss immer eintreffen, wenn das ökonomische Gleichgewicht verschoben ist; wenn eine besitzende Klasse einer enterbten gegenübersteht, so wird das Bewusstsein dieser enterbten Klasse beherrscht durch das Bedürfnis nach materiellen Gütern und das Streben, sie zu erlangen. Jedes Ideal, das einer solchen Klasse entspringt, muss notwendig den Stempel dieser Tatsache tragen. Und umgekehrt ist das Bewusstsein der besitzenden Klasse beherrscht durch die ökonomische Notwendigkeit, die sich immer vor Augen stellt, ihre Position zu verteidigen.
Sobald aber die Trennung der Gesellschaft in Klassen verschwindet, die ganze Gesellschaft nur mehr eine Klasse bildet, verschwindet auch der ökonomische Druck und die entfesselte psychologische Bewegung erlangt freies Spiel. Es mag wahr sein, dass das ökonomische Element sich niemals vollständig eliminieren lässt. Die Natur selbst mag das durch ihren Druck verhindern. Aber wenn in vergangenen Zeiten die Macht des Menschen über die Natur eng begrenzt war, die sozialen Verbände klein, mehr oder weniger isoliert, eine schlechte Ernte, ein Hagelsturm, der räuberische Einfall eines benachbarten Stammes die vollständige Veränderung aller gesellschaftlichen Bedingungen bedeuten mochte, so vermindert die moderne Technik durch ihre Erfindungen diesen Druck. Aber selbst wenn es unserer größeren Herrschaft über die Natur gelingen sollte, direkte äußere Einflüsse bis auf ein Minimum zu reduzieren, so werden sie doch kaum gänzlich verschwinden, und noch weniger wird es gelingen, die Folgen der Störungen, welche die veränderte Entwicklung der Gesellschaft nach sich ziehen muss, im Keime zu ersticken. Immerhin wird dann der ökonomische Faktor des Fortschrittes definitiv entthront sein und nie wieder die Bewegung des politischen, sozialen und geistigen Lebens beherrschen. Die gesellschaftlichen Veränderungen, welche früher unbewusst und durch materielle Bedingungen bestimmt waren, werden dann durch den bewussten willen der Menschen geformt sein.
In der Wirkung und Gegenwirkung der beiden Elemente der sozialen Dynamik auf einander besteht die menschliche Geschichte. Aber innerhalb dieser großen Synthese des gesellschaftlichen Lebens entwickelt sich eine unendliche Zahl neuer Synthesen und gewinnt ein relativ unabhängiges Dasein. In glänzender Weise hat Friedrich Engels gezeigt [3], wie die ökonomischen Formen stets sprößlinge erzeugen, die wieder ihr eigenes Leben führen. Das gilt mutatis mutandis von allen Gebieten der menschlichen Tätigkeiten. Die religiösen, politischen, wissenschaftlichen, philosophischen, moralischen, ästhetischen Äußerungen des Lebens haben die Tendenz, Nebenformen zu entwickeln, welche ein relativ selbstständiges und unabhängiges, obwohl, untergeordnetes eigenes Leben führen. Sie alle sind in gleicher Weise, aber in verschiedenen Graden die Resultate der Einwirkung der ökonomischen Entwicklung auf die psychischen Triebe und der Gegenwirkung dieser auf die ökonomische Entwicklung. Aber jeder Abschnitt dieser Aktionen und Reaktionen besitzt größere Komplexität als der vorhergehende. Keine ökonomische Erscheinung ist das anschließende Produkt der äußeren Kräfte, seine geistige, moralische oder künstlerische Erscheinung das ausschließliche Produkt seelischer Vorgänge. Das gemeinsame Resultat beider ist die menschliche Entwicklung: jede allein hat seine Existenz, nur in ihrer gesamten Wirkung ist ihre Realität gegeben.
Die Hoffnungen für die Zukunft der Menschheit unter der Herrschaft des Sozialismus sind in der Tatsache begründet, dass dann zum ersten Male die geistige Initiative des Menschen befreit sein wird von dem quälenden und zermalmenden Gewichte der ökonomischen Bedingungen und der materiellen Lage und so das menschliche Leben beherrschen wird. Wer die geschichtliche Entwicklung der Vergangenheit begriffen hat, wird die unendliche Bedeutung erfassen können, welche diese Revolution besitzen wird.
[1] Für die Kenner der Lehren von Karl Marx brauche ich wohl nicht ausdrücklich zu bemerken, dass Marx selbst weit entfernt war, in seiner Formulierung der materialistischen Geschichtsauffassung diesen extremen Standpunkt einzunehmen. „Moi même je ne suis pas Marxiste“, schrieb er einmal, und er würde diesen Ausspruch sicher wiederholt haben, wenn [er] die neuesten Leistungen der „Marxisten“ Plechanow, Mehring oder Kautsky erlebt hätte.
[2] “Outlooks from the new Standpoint“, S. 127–128.
[3] Supplement zur „Leipziger Volkszeitung“, 26. Oktober 1895.
Zuletzt aktualisiert am 12 März 2019