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Aus: Zwischen Zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus, Bratislava 1936.
Faschismus und Kapitalismus (Hrsg. Kurt Kliem, Jörg Kammler u. Rüdiger Griepenburg), Wien 1967 S.143-167
Transkription: Markus Lauber fü seine Otto Bauer Homepage
HTML-Markierung: Markus Lauber und Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Den Revolutionen von 1918 ist die Gegenrevolution gefolgt. Aber nicht überall trug die Gegenrevolution die besonderen Charakterzüge des Faschismus. In Polen wurde die Demokratie von der Militärdiktatur Pilsudskis abgelöst. In Jugoslawien trat an die Stelle der Demokratie ein dynastisch-militärischer Absolutismus alten Schlages. Die „Erwachenden Ungarn“ der ungarischen Gegenrevolution von 1919 und die Terrorgruppen, die die bulgarische Regierung Zankoff gegen die gestürzte Bauernpartei und gegen die Arbeiter ausschickte, hatten allerdings schon einen den faschistischen Stoßtrupps ähnlichen Charakter; aber nach kurzer Zeit fiel in beiden Ländern die Macht doch in die Hände der alten und altmodischen Oligarchie zurück. Die neue, ‚faschistische‘ Form der Despotie ist zuerst in Italien und in Deutschland zum Siege gelangt. Heute freilich ist sie die neugefundene Form der Diktatur der kapitalistischen Klassen, deren Methoden nun auch von gegenrevolutionären Regierungen anderen Ursprungs nachgeahmt werden.
Der Faschismus ist das Resultat dreier eng miteinander verschlungener sozialer Prozesse. Erstens hat der Krieg Massen von Kriegsteilnehmern aus dem bürgerlichen Leben hinausgeschleudert und deklassiert. Unfähig, in die bürgerlichen Erwerbs- und Lebensformen zurückzufinden, an den im Kriege erworbenen Lebensformen und Ideologien hangend, bildeten sie nach dem Kriege die faschistischen „Milizen“, die völkischen „Wehrverbände“ mit einer eigenartigen militaristischen, antidemokratischen, nationalistischen Ideologie. Zweitens haben die Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit breite Massen von Kleinbürgern und Bauern verelendet. Diese Massen, pauperisiert und erbittert, fielen von den bürgerlich-demokratischen Massenparteien, denen sie bisher Gefolgschaft geleistet hatten, ab, sie wandten sich enttäuscht und haßerfüllt gegen die Demokratie, mittels deren sie bisher ihre Interessen vertreten hatten, sie scharten sich um die militaristisch-nationalistischen „Milizen“ und „Wehrverbände“.
Drittens haben die Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit die Profite der Kapitalistenklasse gesenkt. Die Kapitalistenklasse, an ihren Profiten bedroht, will ihre Profite durch Steigerung des Grades der Ausbeutung wiederherstellen. Sie will den Widerstand, den die Arbeiterklasse dem entgegensetzt, brechen. Sie verzweifelt daran, dies unter demokratischer Herrschaft zu können. Sie bedient sich der um die faschistischen und völkischen Milizen gescharten rebellischen Massenbewegungen der Kleinbürger und Bauern zuerst, um die Arbeiterklasse einzuschüchtern und in die Defensive zu drängen, später um die Demokratie zu zerschlagen. Sie unterstützt die Faschisten zuerst mit ihren Geldmitteln. Sie verhält ihren Staatsapparat, den faschistischen Milizen Waffen zu liefern und den faschistischen Gewaltaktionen gegen die Arbeiterklasse Straflosigkeit zu sichern. Sie verhält ihn schließlich, die Staatsmacht den Faschisten zu übergeben.
Betrachten wir diese drei miteinander verbundenen sozialen Prozesse etwas näher!
Die Keimzellen der faschistischen Partei Italiens bildeten sich aus nach dem Kriege demobilisierten Reserveoffizieren. Sie hatten Jahre lang kommandiert; jetzt fanden sie im bürgerlichen Leben keine ihrem Selbstgefühl, ihrem Ehrgeiz entsprechende Stellung. Um sie scharten sich Deklassierte aus den Reihen der „Arditi“, der Stoßtruppen des Krieges, stolz auf ihre Kriegsauszeichnungen und Kriegswunden, erbittert, weil das Vaterland, für das sie geblutet hatten, ihnen keine oder keine ihren Ansprüchen genügende Stellung bieten konnte. Sie wollten die im Kriege erworbenen Gewohnheiten nicht aufgeben. Sie wollten kommandieren und kommandiert werden, uniform tragen und marschieren. Sie begannen die Aufstellung einer Privatarmee. In Deutschland war diese Schicht noch breiter. Der Friedens vertrag von Versailles hatte Deutschland zum Abbau eines Großteils seiner Berufsoffiziere gezwungen. Sie stellten die Führerschicht der militärischen „Freikorps“ und „Wehrverbände“ die sich nach dem Kriege zu bilden begannen. Die politischen Wirren der Nachkriegszeit gaben den in Bildung begriffenen faschistischen Milizen die Gelegenheit zur Festigung und zur Hebung ihres Prestiges: in Italien das Abenteuer von Fiume, in Deutschland die Kämpfe im Baltikum und in Oberschlesien.
In diesen Keimzellen des Faschismus entwickelte sich seine ursprüngliche Ideologie. Aus dem Kriege erwachsen, ist sie vor allem militaristisch: sie fordert Disziplin der Masse gegenüber der Kommandogewalt des Führers. Sie wendet sich schroff gegendas Selbstbestimmungsrecht der nur zu diszipliniertem Gehorsam berufenen Masse und ist damit aller Demokratie feind. Sie verachtet das „bürgerliche“, zivilistische Streben nach Frieden, Wohlstand und Behagen und stellt ihm ein kriegerisches, „heroisches“ Lebensideal entgegen. Sie ist erfüllt von dem durch den Krieg aufgepeitschten Nationalismus. Sie sucht die Volksmassen aufzupeitschen gegen die liberale Regierung Italiens, die sich von den Bundesgenossen um die Siegesbeute habe prellen lassen, gegen die republikanische Regierung Deutschlands, die sich würdelos dem Diktat der Siegermächte unterwerfe. Sie ist typisch kleinbürgerlich, gegen das Großkapital und gegen das Proletariat zugleich gerichtet; denn der Offizier haßt den Schieber und Kriegsgewinner und verachtet den Proleten. Ihr Antikapitalismus ist freilich nur gegen die spezifischen parasitischen Kapitalsformen der Kriegs- und Inflationszeit gerichtet; der Offizier schätzt die Kriegsindustrie, aber er haßt den Schieber, er ist darum feind nur dem „raffenden“, nicht dem „schaffenden“ Kapital. Desto leidenschaftlicher ist ihre Gegnerschaft gegen den proletarischen Sozialismus, der in Italien das Eingreifen in den Krieg leidenschaftlich bekämpft hat und eben darum nach dem Kriege sprunghaft erstarkt ist, in Deutschland durch die Niederlage zur Macht gekommen ist und ihr darum als der Nutznießer der Niederlage, als der Agent der Siegermächte erscheint. Sie stellt in der Zeit der größten Anziehungskraft des Sozialismus auf die Massen ihr Ideal als einen „nationalen Sozialismus“ dar und als solchen dem proletarischen Sozialismus entgegen: wahrer, nationaler Sozialismus bedeute nicht die egoistische Ausnützung der Kriegsfolgen durch das Proletariat, sondern die Unterordnung alles „Eigennutzes“ unter den „Gemeinnutz“, aller wirtschaftlichen und sozialen Kräfte unter die Aufgabe der nationalen Behauptung gegen den äußeren Feind. Sie verknüpft ihren Nationalismus mit antibourgeoisen Gedankengängen: die bürgerliche Demokratie des Westens sei nichts als die Klassenherrschaft der reichsten und mächtigsten Kapitalistenklassen; Italien, „die große Proletarierin“, sei von den englischen, französischen, amerikanischen Kapitalisten um die Beute des Sieges betrogen, das deutsche Volk der internationalen, der jüdischen Hochfinanz, die sich hinter der westlichen Demokratie berge und die deutsche Demokratie als ihr Werkzeug gebrauche, tributpflichtig gemacht worden. 5ie stellt ihren Kampf gegen die Demokratie vor den Volksmassen als einen Kampf gegen die Klassenherrschaft der Bourgeoisie, vor den Kapitalisten als einen Kampf gegen die Pöbelherrschaft des Proletariats, vor der nationalistischen Intelligenz als einen Kampf um die Zusammenballung aller nationalen Kräfte zum Kampf gegen den äußeren Feind hin.
Aber die militärischen Stoßtrupps, die die ursprünglichen Träger der faschistischen Ideologie waren, konnten Kraft nur gewinnen, wenn es ihnen gelang, breitere Massen unter ihre Führung, in ihre Gefolgschaft zu bringen. Die erste soziale Schicht, die sich mit der aus dem Kriege erwachsenen faschistischen Ideologie erfüllte, war die Intelligenz.
In Italien und in Deutschland war die parlamentarische Demokratie jungen Datums. In Italien war die parlamentarische Regierungsform alt; aber erst seit 1913 wurde das Parlament auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes gewählt. In Deutschland war das allgemeine und gleiche Wahlrecht alt; aber erst seit 1918 war die Regierung dem Parlament untergeordnet. In beiden Ländern war die Intelligenz von der jungen Demokratie bald enttäuschte Sie sah in ihr einerseits eine getarnte Plutokratie, andererseits die Herrschaft der Masse – der Masse, wie sie in der kapitalistischen Gesellschaft ist, einer ungebildeten, rohen, in Stunden der Erregung zur Gewalttätigkeit neigenden Masse. Selbst durch Geldentwertung und Wirtschaftskrisen verelendet, haßte die Intelligenz die Emporkömmlinge des Proletariats, die sich auf die Regierungsbank setzten. Verständnislos stand sie den Kämpfen um sozialpolitische Probleme gegenüber, die unter dem Druck der Massen das öffentliche Leben beherrschten. Vor allem aber setzte der durch den Krieg aufgepeitschte Nationalismus die Intelligenz in Gegensatz gegen die junge Demokratie.
Als der Weltkrieg ausbrach, blieb Italien zunächst neutral. Monate lang wurde innerhalb der italienischen Bourgeoisie ein erbitterter Kampf darum geführt, ob Italien in der Neutralität verharren oder in den Krieg eingreifen solle. Für die Neutralität kämpften die Sozialisten, die Katholiken, die von Giolitti geführte liberale Bourgeoisie und mit ihr die Mehrheit des Parlaments. Für den Krieg gegen Oesterreich erhob sich eine von der Schwerindustrie und dem Großgrundbesitz patronisierte, von der nationalistischen, in der Tradition des Risorgimento erzogenen Intelligenz geführte Massenbewegung. Gegen den Willen der Regierung und der Parlamentsmehrheit erzwang diese Bewegung das Eingreifen in den Krieg. In allen anderen Krieg führenden Ländern Europas mochten die Volksmassen glauben, daß das Vaterland vom Feinde überfallen, zum Kriege gezwungen worden sei; in Italien war der Krieg offensichtlich das Ergebnis freier Wahl. Diese Tatsache hat die EntwicklungItaliens nach dem Kriege entscheidend bestimmt. Der Sozialismus hatte den Krieg bekämpft; als die Volksmassen durch die Leiden des Krieges hindurch gegangen waren, strömten sie in Massen dem Sozialismus zu. Eine gewaltige revolutionäre sozialistische Bewegung ging in den ersten Nachkriegsjahren durch die italienischen Volksmassen. Andererseits aber waren die Interventionisten da, die 1915 Italiens Eingreifen in den Krieg erzwungen hatten. Sie hatten schon 1915 gegen Liberale, Katholiken und Sozialisten zugleich gekämpft. Sie hatten damals schon die Neutralisten, das unkriegerische liberale Händlertum auf der einen, die Sozialisten, denen es nur um das träge Behagen der Massen zu tun sei, auf der anderen Seite im Namen einer „heroischen“ Lebensphilosophie bekämpft. Sie hatten damals schon das Parlament, das dem Krieg widerstrebte, zur Kapitulation gezwungen. Ihre Stoßtrupps hatten damals schon von der Straße aus die Entscheidung herbeigeführt. Die „interventionistische“ Intelligenz stellte nach dem Kriege die Kaders, die sich um die militärischen Trupps der Faschisten scharten.
Deutschland hatte im Krieg einer Welt von Feinden in gewaltigen Waffentaten standgehalten; schließlich erlag es doch der Übermacht. Aus der Niederlage ging die Revolution hervor, die die Republik gründete – eine Republik, in bitterster Not entstanden, wehrlos gegen den Obermut der Sieger, mit schweren Tributen an die Sieger belastet, tausendemal von den Siegern gedemütigt, von einer schweren Wirtschaftserschütterung zur anderen wankend. Der Nationalismus der Intelligenz bäumte sich gegen die unwürdige Lage der Nation auf. Hatte nicht erst die Revolution dem Kriege ein Ende gesetzt? Bewies dies nicht, daß nur der „Dolchstoß von hinten“ die Widerstandskraft des deutschen Heeres zerbrochen habe? Regierten nicht Proleten, die die Größe und Würde des Verlorenen und Zerstörten nicht begriffen, Verräter, die den Dolchstoß geführt hatten, Emporkömmlinge, denen die Niederlage der Nation zum Aufstieg verholten hatte, die Republik, um sich demütig jeder Forderung der Sieger zu unterwerfen? So speisten die Folgen der Niederlage im Weltkrieg den deutschen Nationalismus, der die nationalistische, in der preußisch-hohenzollernschen Tradition erzogene Intelligenz den völkischen Wehrverbänden zutrieb.
Die nationalistische Intelligenz wurde zur Mittlerin zwischen den militärischen faschistisch-völkischen Stoßtrupps und den breiten Massen der Kleinbürger und der Bauern. Aber es bedurfte schwerer wirtschaftlicher und sozialer Erschütterungen, die breiten kleinbürgerlich-bäuerlichen Massen von den historischen bürgerlich-demokratischen Massenparteien loszureißen und sie dem Faschismus zuzuführen.
Nach dem Kriege wurde die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Staaten, die am Kriege teilgenommen hatten, zunächst durch die Inflation beherrscht. Mit der schnellen Entwertung des Geldes schrumpften die Ersparnisse der Kleinbürger zusammen, wurde das Betriebskapital der kleinen Kaufleute und Handwerksmeister aufgezehrt, wurden breite Schichten des Kleinbürgertums verelendet. Zugleich aber führte die Geldentwertung zu immer größeren, immer leidenschaftlicher geführten Lohnkämpfen, die immer wieder Verkehrsmittel und öffentliche Betriebe stillegten Der Kleinbürger, der sich selbst gegen die Geldentwertung nicht zu wehren vermochte, war erbittert darüber, daß die Lohnkämpfe zwischen Kapital und Arbeit immer wieder seine Ruhe störten. Er hielt die von der Arbeiterklasse erzwungenen Lohnerhöhungen, Folgen der Geldentwertung, für ihre Ursache. Er war empört, daß sich Teile der Arbeiterschaft immer wieder Lohnerhöhungen zu erkämpfen vermochten, die sie für die Entwertung des Geldes entschädigten, während er sein Einkommen nicht in dem Maße der Geldentwertung zu erhöhen vermochte. Er sah erbittert seine Lebenshaltung unter die mancher Schichten der Arbeiterschaft sinken, die Verteilung des Nationaleinkommens zu seinen Ungunsten verschoben. Haßte er die Inflationsschieber, so haßte er noch viel mehr die rebellische Arbeiterschaft.
Über ganz Italien ergoß sich im Jahre 1919 eine Welle von Streiks, die den großen und kleinen Unternehmern große Zugeständnisse abrangen. Die Streikwelle gipfelte in der bewaffneten Fabriksbesetzung im August 1920. Die liberale Regierung Giolitti wagte es nicht, der rebellischen Massenbewegung, die sowohl die industrielle als auch die landwirtschaftliche Arbeiterschaft erfaßt hatte, die Gewaltmittel des Staates entgegenzustellen. Sie suchte die Bewegung durch Verhandlungen, durch Vereinbarungen, durch Zugeständnisse, durch Kompromisse zu besänftigen. Das Parlament, in hadernde Parteien zerklüftet, vermochte keine stabile und starke Regierung aus sich zu bilden, keine der brennenden wirtschaftlichen Fragen anders als in mühseligen Kompromiß Verhandlungen, keine daher schnell und eindeutig zu lösen. So wandten sich denn breite Schichten des italienischen Kleinbürgertums von der Demokratie ab. Sie wandten sich dem Glauben zu, daß nur ein eiserner Führerwille das Proletariat zum Gehorsam zwingen, den erbitterten, immer wieder den ruhigen Verlauf des Wirtschaftslebens unterbrechenden Klassenkämpfen und dem lahmenden Hader der Parteien ein Ende setzen, die zerrüttete Volkswirtschaft wiederherstellen könne.
Auch in Deutschland ist die faschistische völkische Bewegung schon in den ersten Nachkriegsjahren entstanden, schon in der Zeit der Inflation bedrohlich stark geworden. Als im Jahre 1923 der Ruhrkrieg die nationalistischen Leidenschaften stärkte, als damals die völlige Entwertung der Mark die Volksmassen pauperisierte, als völkische Wehrverbände an der Nordgrenze Bayerns aufmarschierten und mit dem Marsch auf Berlin drohten, war Deutschland damals schon in ernster Gefahr, in die Hände eines völkischen Faschismus zu fallen. Aber die bürgerliche Demokratie hat sich damals noch des Angriffs des Faschismus erwehrt. Der Ruhrkrieg hatte gezeigt, wie aussichtslos der Widerstand gegen die Siegermächte damals noch war. Die deutschen Bürger und Bauern brauchten damals die Hilfe der kapitalreichen Westmächte für die Stabilisierung der Mark, die Verständigung mit ihnen über die Reparationen und vor allem große Kredite zum Wiederaufbau der deutschen Unternehmungen. Darum wollten sie damals kein nationalistisch-faschistisches Abenteuer. Nach der Stabilisierung der Mark, in der Zeit des schnellen Anstiegs der deutschen Warenpreise, des gewaltigen Zuströmens von Auslandskrediten ebbte die völkische Flut schnell ab. Kleinbürger und Bauern folgten nun wieder willig den demokratischen Parteien. Die nationalsozialistische Partei Hitlers war in der Zeit der Prosperität eine bedeutungslose Splitterpartei. Aber sobald 1929 die Krise hereinbrach, entstand der völkische Faschismus von neuem. Die Demokratie vermochte Kleinbürger und Bauern vor der Verelendung durch die Krise nicht zu schützen; Kleinbürger und Bauern wandten sich gegen die Demokratie. Da die demokratischen Parteien den verelendeten Massen nicht zu helfen vermochten, strömten die verelendeten Massen den Nationalsozialisten zu. In schnellem Siegeszug eroberte der Nationalsozialismus die Kleinbürger und die Bauern.
Aber ist die faschistische Bewegung vorerst zu einer Massenbewegung der Kleinbürger und Bauern geworden so wurde sie zur Macht nur dadurch, daß sich die Kapitalistenklasse entschloß, sich ihrer zur Niederwerfung der Arbeiterklasse zu bedienen.
Italien hat in den ersten beiden Jahren der Nachkriegszeit eine wahre Agrarrevolution durchgemacht. Stürmische Bewegungen der Pächter und Kolonen gegen die Großgrundbesitzer, der Taglöhner gegen die Großgrundbesitzer und gegen die Pächter haben die italienische Agrarverfassung umgewälzt. Die Terzeria, der Anspruch des Großgrundbesitzers auf zwei Drittel der Erzeugnisse des Pächters, wurde beseitigt, die Lieferung von Saatgut und Düngemittel durch die Großgrundbesitzer erzwungen, die Abstiftung der Pächter an die Zustimmung paritätischer Kommissionen gebunden. Die Taglöhner der Poebene erzwangen Lohnerhöhungen und die Garantie eines Minimums Jährlicher Arbeitstage. Ländereien von Großgrundbesitzern wurden gewaltsam besetzt; die Regierung mußte die gewaltsame Bodenbesetzung durch Dekrete sanktionieren. Schließlich setzten sich die Großgrundbesitzer zur Wehr. Im Jahre 1921 riefen sie den Fascio zu Hilfe. Rief ein Großgrundbesitzer die Faschisten an, so besetzten sie schwer bewaffnet das Dorf, sie setzten den Gemeinderat ab und setzten einen neuen Bürgermeister ein, steckten den Sitz des Taglöhnerverbandes in Brand, mißhandelten und vertrieben seine Führer, mordeten alle, die Widerstand leisteten. Durch diese „Strafexpeditionen“ wurde die Kraft des Landproletariats gebrochen.
Das Beispiel das die Großgrundbesitzer gegeben hatten, wurde von der städtischen Bourgeoisie nachgeahmt. Bald gab es auch in den Städten „Strafexpeditionen“: die Faschisten besetzten die Städte, sie erzwangen den Rücktritt der roten Bürgermeister und Gemeinderäte, sie zerstörten die Gewerkschaftslokale, sie vertrieben, mißhandelten, mordeten die Vertrauensmänner der Arbeiterschaft.
Die Kapitalistenklasse hatte das Mittel entdeckt, den stürmischen Angriff der Arbeiterklasse abzuwehren, die Arbeiterklasse niederzuwerfen. Noch dachte sie nicht daran, die Staatsmacht den Faschisten zu übergeben. Sie wollte vorerst sich der Faschisten nur als ihres Werkzeugs zur Niederwerfung der Arbeiterklasse bedienen. Sie stellte den Faschisten reiche Geldmittel zur Verfügung, um ihnen die Erhaltung und Ausrüstung der Stoßtrupps, die jeden Tag gegen rebellische Arbeiter eingesetzt werden konnten, zu ermöglichen. Sie sorgte dafür, daß ihre Staatsgewalt die Aktionen der Faschisten förderte. Schon im Oktober 1920 hat der Generalstabschef Badoglio die Divisionskommandeure angewiesen, die faschistische Bewegung zu unterstützen. Aus den Beständen der Armee gingen Waffen in die Hände der Faschisten über. Unternahmen die Faschisten „Strafexpeditionen“ gegen die Arbeiterschaft, so griff die Polizei nur ein, um unter dem Verwände, Zusammenstöße zu verhüten, die Waffen der Arbeiter zu beschlagnahmen und ihre Führer zu verhaften.
Aber die wohlfeilen Siege, die der Faschismus dank solcher Unterstützung der Staatsgewalt erkämpfen konnte, trieben ihm immer größere Massen zu. Bei den „Strafexpeditionen“ konnte, wer das schwarze Hemd trug, ungestraft morden, Brand legen, rauben; diese Tatsache trieb dem Faschismus das ganze Lumpenproletariat zu. Die Mitglieder der faschistischen Stoßtrupps wurden aus den großen Subventionen der Kapitalisten und der Großgrundbesitzer bekleidet und besoldet; das trieb Arbeitslose in ihre Reihen. Der Faschismus war in schnellem sieghaften Vormarsch; das trieb ihm aus allen Klassen die Menschen zu, welche immer auf der Seite des Siegers sind. Die faschistische Miliz wurde zur Sammelstelle der Deklassierten aller Klassen. Dank der Hilfe, die sie von der Bourgeoisie erfahren hatte, wurde sie zu stark, um als bloßes Werkzeug der Bourgeoisie zu dienen. Sie griff nach der Macht selbst. Die Bourgeoisie hatte nur noch die Wahl, die faschistische Privatarmee, die sie finanziert und bewaffnet hatte, gewaltsam zu zerschmettern und damit das niedergeworfene Proletariat zu entfesseln oder der Privatarmee des Faschismus die Staatsmacht zu übergeben. In dieser Situation ließ die Bourgeoisie ihre eigenen Vertreter in der Regierung und im Parlament im Stich, sie zog die Übergabe der Staatsmacht an den Faschismus vor. Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit, in dessen Verlauf sich die Bourgeoisie der faschistischen Gewalthaufen bedient hatte, schien damit zu enden, daß diese Gewalthaufen, nachdem sie das Proletariat niedergeworfen hatten, nun auch die Repräsentanten der Bourgeoisie aus dem Parlament und der Regierung davonjagen, auch die Bourgeois-Parteien auflösen, über alle Klassen des Volks ihre Gewaltherrschaft aufrichten konnten. „Der Kampf scheint so geschlichtet, daß alle Klassen gleich machtlos und gleich lautlos vor dem Kolben niederknien.“ [1]
Die Geschichte wiederholt sich in Deutschland. Auch hier wurde der völkische Faschismus schon in der Geldentwertungsperiode von der Bourgeoisie und ihrer Staatsgewalt gefördert. Die Junker beherbergten die aus dem Baltikum und aus Oberschlesien heimgekehrten Freikorps auf ihren Landgütern. Die Schwerindustrie subventionierte die völkischen Wehrverbände. Die Staatsgewalt formierte aus ihnen die „Schwarze Reichswehr“. Die Regierung nützte 1923 die durch das Anschwellen der völkischen Bewegung hervorgegangene Massenstimmung,die Schwächung der vom völkischen Faschismus eingeschüchterten, in die Defensive gedrängten Arbeiterklasse aus zur Reichsexekution gegen die Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen und zur Durchlöcherung des Achtstundentages. Aber dieses Bündnis zwischen Kapital und Faschismus wurde nach der Beendigung des Ruhrkrieges zerrissen.
Als die deutsche Bourgeoisie nach der Beendigung des Ruhrkrieges große Auslandsanleihen zur Sicherung der wiederhergestellten Währung und zur Leistung der Reparationsraten, große Auslandskredite für ihre Banken und Industrieunternehmen zum Ersatze des durch die Inflation zerstörten zirkulierenden Kapitals, als sie darum die „Verständigungspolitik“ brauchte, entzog sie der völkischen Bewegung ihre Unterstützung. In der Prosperitätsperiode stützte die deutsche Bourgeoisie die bürgerlich-demokratischen Parteien. Die Volkspartei nahm an der demokratischen Regierung teil, die Deutschnationalen näherten sich der Demokratie. Erst nach dem Einbruch der Krise von 1929 begannen die Kapitalisten und die Junker sich wieder dem Faschismus zu nähern. Als die nationalsozialistische Bewegung, in der Prosperitätszeit weit zurückgeworfen, unter dem Drucke der Krise schnell die durch die Krise verelendeten kleinbürgerlichen und bäuerlichen Massen eroberte, erkannten die Schwerindustrie und das Junkertum bald in ihr das Mittel, die Arbeiterklasse zurückzuwerfen, den Einfluß der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften zurückzudrängen, die Hindernisse zu zerstören, die die demokratischen Institutionen dem Kampf des Kapitals um die Steigerung des Grades der Ausbeutung, um die Wiederherstellung der Profite bereiteten. Die Deutschnationalen unter Hugenbergs Führung verbündeten sich mit Hitler in der „Harzburger Front“. Die Bourgeois-Fraktionen, die Brüning stützten, benützten die Angst der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften vor einer faschistischen Diktatur, um von ihnen die „Tolerierung“ der kapitalistischen Diktatur Brünings, die die Lebenshaltung der Volksmassen mittels der Deflationspolitik ihrer Notverordnungen schnell senkte, zu erpressen. Die nationalen Sturmtrupps erwiesen sich nützlich, die Zustimmung der Arbeiterorganisationen zur Senkung der Lebenshaltung der Arbeiter, die Zustimmung der Demokratie zu einer kapitalistischen Diktatur zu erpressen; daher strömten ihnen die Subventionen der Großindustrie in großen Beträgen zu. Reichswehr, Bürokratie und Richtertum, zufrieden damit, daß das Anwachsen der nationalsozialistischen Flut die „Marxisten“ einschüchterte, sicherten den braunen Gewalthaufen, die auf der Straße Reichsbannermänner und Rot-Frontler niederschlugen, wohlwollende Behandlung durch die Staatsgewalt.
Waren Kapitalistenklasse und Junkertum „nationalsozialistisch“ geworden? Keineswegs. Im Grunde verachteten sie den „Anstreicher“, der nach der Macht strebte, die ganze plebejische, von Kleinbürgern, Bauern, Deklassierten aller Klassen getragene, von utopistischem kleinbürgerlichem Antikapitalismus erfüllte Bewegung, die sie unterstützten. Aber ganz so, wie sich Giolitti in Italien des Faschismus bedienen zu können glaubte, um die rebellierende Arbeiterschaft einzuschüchtern, zurückzudrängen, zu pazifizieren, so glaubten in Deutschland Kapitalisten und Junker, sich der nationalsozialistischen Bewegung bedienen zu können, um den Einfluß der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zu überwinden, den Widerstand der Arbeiterklasse gegen die Senkung der Löhne, gegen den Abbau der Arbeiterschutzgebung und der Arbeiterversicherung, gegen die Deflationspolitik einer Diktatur des Kapitals und des Großgrundbesitzes zu brechen. Aber hier wie dort ist der Faschismus den kapitalistischen Klassen bald über den Kopf gewachsen. Auch in Deutschland trat der Augenblick ein, in dem Junker und Kapitalisten nur noch die Wahl hatten, den Faschismus niederzuwerfen und dadurch die Machtverhältnisse mit einem Schlage zugunsten der Arbeiterklasse zurückzuverschieben oder die Staatsmacht dem Faschismus zu übergeben. In dieser Lage entschied die junkerliche Umgebung Hindenburgs für die Übergabe der Staatsmacht an Hitler. Wie in Italien traten auch hier die Repräsentanten der historischen bürgerlichen Parteien in die erste Faschistenregierung ein, glaubten sie auch hier, sich den Faschismus in der Regierung unterzuordnen und assimilieren zu können. Aber noch schneller als in Italien hat der deutsche Faschismus die einmal eroberte Staatsmacht benützt, die bürgerlichen Parteien aus der Regierung hinauszuschleudern, die Parteien und Organisationen der Bourgeoisie aufzulösen, seine „totalitäre“ Diktatur zu etablieren. Audi hier schien der Klassenkampf damit zu enden, daß die faschistischen Gewalthaufen ihre Herrschaft über alle Klassen aufrichteten.
Der Faschismus rechtfertigt sich vor der Bourgeoisie gern damit, er habe sie vor der proletarischen Revolution, vor dem „Bolschewismus“ gerettet. In der Tat hat der Faschismus in seiner Propaganda Intellektuelle, Kleinbürger und Bauern gern mit dem Gespenst des Bolschewismus geschreckt. Aber in Wirklichkeit hat der Faschismus nicht in einem Augenblick gesiegt, in dem die Bourgeoisie von der proletarischen Revolution bedroht gewesen wäre. Er hat gesiegt, als das Proletariat schon längst geschwächt und in die Defensive gedrängt, die revolutionäre Flut schon abgeebbt war. Die Kapitalistenklasse und der Großgrundbesitz haben die Staatsmacht den faschistischen Gewalthaufen nicht deshalb überantwortet, um sich vor einer drohenden proletarischen Revolution zu schützen, sondern zu dem Zweck, um die Löhne zu drücken, die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse zu zerstören, die Gewerkschaften und die politischen Machtpositionen der Arbeiterklasse zu zertrümmern;nicht also, um einen revolutionären Sozialismus zu unterdrücken, sondern um die Errungenschaften des reformistischen Sozialismus zu zerschlagen.
„Der rednerische Revolurionarismus der Maximalisten“, sagt Silone, „gefährdet nur die Lampen der Straßenbeleuchtung und manchmal die Knochen von einigen Polizeiagenten. Aber der Reformismus mit seinen Kooperativen, seiner Gehaltserhöhung in Krisenzeiten, seiner Arbeitslosenunterstützung bedroht etwas viel Heiligeres: den Kapitalprofit ... Gegen den schwätzerischen Maximalismus, der vom Morgen bis zum Abend die Bandiera rossa und die Internationale singt, verteidigt sich der Kapitalismus mit den Gesetzen und, wenn die alten nicht genügen, macht er neue; gegen den Reformismus, der auf friedlichem, demokratischem und gesetzlichem Weg das Gleichgewicht zwischen den Klassen stört, wird der Kapitalismus blutgierig und greift er zum faschistischen Banditen ... Der Reformismus läuft nicht Gefahr, solange er schwach ist, sondern wenn er stark ist, d.h. wenn er die Grenzen erreicht, bei deren Überschreiten die Demokratie und die Gesetzlichkeit gegen den Kapitalgewinn angewendet werden.“ [2]
In der bürgerlichen Demokratie herrscht die Kapitalistenklasse, aber sie herrscht unter dem ständigen Druck der Arbeiterklasse. Sie muß der Arbeiterklasse immer wieder, immer weitere Zugeständnisse machen. Der ständige Kampf des reformistischen Sozialismus und der Gewerkschaften um höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit, Ausbau der sozialen Gesetzgebung und Verwaltung erschüttert freilich in der Zeit der aufsteigenden kapitalistischen Entwicklung den Kapitalismus nicht; er hebt ihn vielmehr auf ein höheres technisches, soziales und kulturelles Niveau. Aber in den schweren Wirtschaftskrisen, die dem Weltkrieg gefolgt sind, erscheinen die Errungenschaften des reformistischen Sozialismus der Kapitalistenklasse als Hindernisse des „normalen“, durch die Bewegungen der Profitrate bestimmten Produktions- und Zirkulationsprozesses. Sie ist entschlossen, alle weiteren Zugeständnisse zu verweigern, die der Arbeiterklasse schon gemachten Zugeständnisse zu widerrufen. Die demokratischen Institutionen hindern sie daran; also wendet sie sich gegen die demokratischen Institutionen. Die demokratische Rechtsordnung erlaubt ihrer Staatsgewalt nicht, die staatlichen Gewaltmittel gegen den mit gesetzlichen Mitteln kämpfenden reformistischen Sozialismus einzusetzen; also bedient sie sich der ungesetzlichen privaten Gewaltmittel der faschistischen Banden neben ihrem gesetzlichen Staatsapparat. Aber wenn sie die faschistischen Banden auf das Proletariat losläßt, so wird sie selbst zur Gefangenen der faschistischen Banden. Sie kann die faschistischen Banden, die sie gegen das Proletariat mobilisiert hat, nicht mehr niederwerfen, ohne sich der Revanche des Proletariats auszusetzen. Sie muß daher sich selbst der Diktatur der faschistischen Banden unterwerfen, ihre eigenen Parteien und Organisationen der faschistischen Gewalt preisgeben.
Die faschistische Diktatur entsteht so als das Resultat eines eigenartigen Gleichgewichts der Klassenkräfte. Auf der einen Seite steht eine Bourgeoisie, die die Herrin der Produktions- und der Zirkulationsmittel und der Staatsgewalt ist. Aber die Wirtschaftskrise hat die Profite dieser Bourgeoisie vernichtet. Die demokratischen Institutionen hindern die Bourgeoisie, ihren Willen dem Proletariat in dem Ausmaß, das ihr zur Wiederherstellung ihrer Profite notwendig erscheint, aufzuzwingen. Diese Bourgeoisie ist zu schwach, um ihren Willen noch mit jenen geistigen, ideologischen Mitteln, durch die sie in der bürgerlichen Demokratie die Wählermassen beherrscht, durchzusetzen. Sie ist, durch die demokratische Rechtsordnung beengt, zu schwach, um das Proletariat mit gesetzlichen Mitteln, mittels ihres gesetzlichen Staatsapparates niederzuwerfen. Aber sie ist stark genug, eine gesetzlose, gesetzwidrige Privatarmee zu besolden, auszurüsten, auf die Arbeiterklasse loszulassen. Auf der anderen Seite steht eine von dem reformistischen Sozialismus und von den Gewerkschaften geführte Arbeiterklasse. Reformismus und Gewerkschaften sind stärker geworden, als es die Bourgeoisie erträgt. Ihr Widerstand gegen die Hebung des Grades der Ausbeutung steht der Deflation im Wege. Er kann nicht mehr anders als durch Gewalt gebrochen werden. Aber wird der reformistische Sozialismus gerade um seiner Stärke willen, um der Größe seiner Erfolge willen, um der Kraft seines Widerstandes willen gewaltsam angegriffen, so ist er andererseits zu schwach, sich der Gewalt zu erwehren. Auf dem Boden der bestehendenbürgerlichen Demokratie wirkend, an der Demokratie als seinem Kampfboden und seiner Kraftquelle festhaltend, erscheint er breiten kleinbürgerlichen, bäuerlichen, proletarischen Massen als eine „Systempartei“, als Teilhaber und Nutznießer Jener bürgerlichen Demokratie, die sie vor der Verelendung durch die Wirtschaftskrise nicht zu schützen vermag. Er vermag daher die durch die Krise revolutionierten Massen nicht an sich zu ziehen. Sie strömen seinem Todfeind, dem Faschismus zu. Das Resultat dieses Gleichgewichts der Kräfte oder vielmehr der Schwäche beider Klassen ist der Sieg des Faschismus, der die Arbeiterklasse im Dienste der Kapitalisten niederwirft aber im Solde der Kapitalisten ihnen so über den Kopf wächst, daß sie selbst ihn schließlich zu unbeschränkten Herren über das ganze Volk und damit auch über sich selbst machen müssen.
Wie sich der Absolutismus der frühkapitalistischen Epoche, vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, auf der Basis, des, Gleichgewichts der Kräfte des Feudaladels und der Bourgeoisie entwickelt hat, wie der Bonapartismus des 19. Jahrhunderts das Resultat Jenes zeitweiligen Kräfteausgleichgewichtes zwischen der Bourgeoisie und dem Adel einerseits, zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie andererseits gewesen ist, das aus den Revolutionskämpfen von 1848 hervorging, so ist auch der neue, der faschistische Absolutismus das Ergebnis eines zeitweiligen Gleichgewichtszustandes, in dem weder die Bourgeoisie dem Proletariat ihren Willen mit den alten gesetzlichen Methoden aufzwingen, noch das Proletariat sich von der Herrschaft der Bourgeoisie befreien konnte und beide Klassen daher unter die Diktatur der Gewalthaufen gerieten, die die Kapitalistenklasse gegen das Proletariat benutzt hat, bis sie sich schließlich selbst ihrer Diktatur unterwerfen mußte.
Aber ist die faschistische Diktatur aus einem Zustande des Gleichgewichts der Klassenkräfte hervorgegangen, so wird durch ihre Etablierung und Stabilisierung dieser Gleichgewichtszustand aufgehoben. Die Kapitalistenklasse hat allerdings, als sie dem Faschismus die Macht überantwortete, ihre eigenen Regierungen, Parteien, Institutionen, Organisationen, Traditionen, einen ganzen großen Stab von Männern, die ihr Vertrauen genossen und ihr gedient haben, dem Faschismus preisgeben müssen. Aber der führenden Schicht der Bourgeoisie, den Großkapitalisten und den Großgrundbesitzern gelingt es nach der Etablierung der faschistischen Diktatur überaus schnell, auch das neue Herrschaftssystem in ein Instrument ihrer Klassenherrschaft, auch die neuen Herren in ihre Diener zu verwandeln.
Gewiß, die faschistische Diktatur erscheint zunächst auch der Kapitalistenklasse gegenüber selbständiger und selbstherrlicher, auch gegen sie stärker als die Regierungsgewalt der bürgerlichen Demokratie. Der faschistische Terror bedroht auch den Kapitalisten. Die faschistische Diktatur löst auch kapitalistische Organisationen auf oder stellt sie doch unter ihre Vormundschaft. Die faschistische Diktatur unterwirft sich auch die kapitalistische Presse. Sie verwandelt die Preßorgane des Kapitals in Preßorgane der Regierungsgewalt und beraubt dadurch das Kapital der selbständigen Verfügung über das wichtigste Mittel zur Beeinflussung der Volksmassen. Aber wenn die faschistische Diktatur auch über die Kapitalistenklasse herrschte so wird sie dennoch unvermeidlich zum Vollzugsorgan der „Bedürfnisse“ der Interessen, des Willens der Kapitalistenklasse.
Wir haben in unserer Darstellung der bürgerlichen Demokratie den ökonomisch-ideologischen Mechanismus beschrieben, mittels dessen die Kapitalistenklasse die Wählerschaft, die Parteien, die Regierungen der bürgerlichen Demokratie ihren Bedürfnissen, ihren Profiten, ihrem Willen dienstbar macht. Dieser ganze Mechanismus bleibt auch unter der faschistischen Diktatur voll wirksam. Auch unter der faschistischen Diktatur bleibt der Gang der Volkswirtschaft abhängig von der Profitrate und kann sich daher Jedes Interesse des Profits als Interesse der Volksgemeinschaft verkleiden. Auch unter der faschistischen Diktatur bleiben Staat und Volkswirtschaft abhängig vom Kredit und maskiert sich daher Jedes Interesse der Hochfinanz als Interesse des Staates und der Volkswirtschaft. Auch unter der faschistischen Diktatur können die Großwürdenträger des Eigentums ihre Interessen als Interessen der Masse der kleinen Eigentümer durchsetzen.
Aber wenn Kapitalisten und Großgrundbesitzer ihre Klassenherrschaft auch unter der faschistischen Diktatur behaupten, so fallen mit der Etablierung der faschistischen Diktatur die Hemmungen, die Gegengewichte weg, die in der bürgerlichen Demokratie ihre Klassenherrschaft beschränken. In der bürgerlichen Demokratie konnte die Kapitalistenklasse ihre Herrschaft nur mittels der großen bürgerlichen Massenparteien ausüben, die sich bei den Wahlen vor den Massen des Bürgertums, der Bauernschaft, der Angestelltenschaft verantworten und um ihre Stimmen werben, die daher auf die Interessen, die Meinungen, die Stimmungen dieser Massen Rücksicht nehmen müssen. Unter der faschistischen Diktatur können Kapitalisten und Großgrundbesitzer durch ihre Macht über die Volkswirtschaft, über den Geschäftsgang über den öffentlichen Kredit die Diktatoren nicht weniger unmittelbar beeinflussen als in der bürgerlichen Demokratie; die Massen des Bürgertums und der Bauernschaft dagegen sind durch die Gleichschaltung ihrer Organisationen, durch die Aufhebung der Pressefreiheit und der Freiheit des Wahlkampfes mundtot gemacht, sie können ihre Interessen nicht mehr verfechten. Hat in der bürgerlichen Demokratie die ganze Bourgeoisie, wenngleich unter der Führung des Großkapitals, geherrscht, so herrschen unter der faschistischen Diktatur nur noch Großkapital und Großgrundbesitz, während die Masse des Bürgertums und der Bauernschaft machtlos wird.
In der Periode seines Kampfes um die Macht, hat sich der Faschismus allerdings gerade auf kleinenbürgerliche und bäuerliche Massen, auf Massen, die durch die Wirtschaftskrise verelendet, revolutioniert, mit antikapitalistischen Stimmungen erfüllt worden waren, gestützt. Aber einmal zur Macht gekommen, gerät er unvermeidlich unter den bestimmenden Einfluß der kapitalistischen Gesellschaftsmächte und muß daher den utopistischen kleinbürgerlichen Radikalismus seiner eigenen Gefolgschaft niederringen. In Italien geschah dies in heftigen Kämpfen innerhalb der faschistischen Partei im Jahre 1923. In Rom spaltete sich die Partei in zwei Fraktionen. In Livorno und in Bologna griffen oppositionelle Gruppen die Parteizentrale an. In vielen Orten gab es Rebellionen mit der Parole eines „zweiten Marsches auf Rom“. Die Diktatoren warfen diese Kleinbürgerrebellion mit der Ausschließung zehntausender Schwarzhemden aus der Partei, mit dem Verbot aller Provinzialkongresse, mit der Auswechslung der Unterführer und Komitees nieder. In den Jahren 1923 bis 1926 wurde die faschistische Partei in ein gefügiges Instrument der Staatsgewalt verwandelt, innerhalb dessen es keine freie Diskussion, keine freie Führerwahl, keine eigene Willensbildung mehr gibt. Damit war die Entmachtung des Kleinbürgertums vollendet; die unter dem Einfluß der Großkapitalisten und der Großgrundbesitzer verbleibende Diktatur herrscht über Kleinbürger und Bauern.
Derselbe Prozeß vollzog sich in Deutschland. Hitler hat die Kleinbürgerrebellion der SA, die nach der „zweiten Revolution“ schrie, mit den Morden vom 30. Juni 1934 niedergeworfen, die Partei mit der Proklamation „der Führer ist die Partei“ in ein bloßes Herrschaftsinstrument der Diktatur verwandelt und damit die kleinbürgerlichen Widerstände gegen die kapitalistische Diktatur gebrochen. Den Kleinbürger zu befriedigen, läßt er seinen Haß gegen die Juden sich austoben.
Die bürgerliche Demokratie hat allen Staatsbürgern den Genuß der individuellen Freiheitsrechte, dem ganzen Volke die freie Wahl der gesetzgebenden Körperschaften und durch sie die Kontrolle der öffentlichen Verwaltung gesichert. Herrschte auch in ihr die Bourgeoisie, so war ihre Herrschaft doch durch das Gewicht der Masse der proletarischen Wähler und durch die Kraft der proletarischen Organisationen beschränkt. Der Faschismus vernichtet alle individuellen Freiheitsrechte, er hebt die Freiheit der Wahl auf, er zerstört die proletarischen Organisationen, – die Arbeiterklasse wird damit vollkommen entrechtet und entmachtet. An die Stelle der durch die demokratischen Institutionen beschränkten Klassenherrschaft, tritt die „totalitäre“, d.h. unbeschränkte Klassenherrschaft, die Diktatur. Die faschistische Konterrevolution bedeutet also den Obergang von der durch die demokratischen Institutionen beschränkten Klassenherrschaft der gesamten Bourgeoisie zu der unbeschränkten Diktatur der Großkapitalisten und der Großgrundbesitzer.
Die Gesellschaftsordnung ist stärker als die Staatsverfassung. Die ökonomische Macht des Kapitals ordnet sich jede Staatsgewalt unter, solange die Kommandohöhen der Wirtschaft in den Händen des Kapitals bleiben. Die bürgerliche Demokratie ist nicht aus dem Willen der Kapitalisten entstanden; sie war das Resultat der Klassenkämpfe der Arbeiter, der Kleinbürger, der Bauern gegen die Kapitalistenklasse. Trotzdem ist sie, einmal stabilisiert, zum Herrschaftsmittel der Kapitalistenklasse geworden. Trotzdem haben gerade die Kämpfe auf ihrem Boden den Kapitalismus auf ein höheres technisches, soziales und kulturelles Niveau gehoben, die Kleinbürgerparteien, die einst im Kampfe gegen die Kapitalistenklasse aufgestiegen waren, in Werkzeuge der Kapitalistenherrschaft verwandelt, die revolutionäre Gärung in den Arbeitermassen beendet, die Arbeitermassen reformistisch pazifiziert. So ist auch die faschistische Diktatur ursprünglich keineswegs von der Kapitalistenklasse gewollt worden. Eine plebejische, rebellische, von antikapitalistischen Stimmungen erfüllte Bewegung der durch Krieg und Krisen aus dem bürgerlichen Erwerbsleben hinausgeschleuderten Deklassierten aller Klassen hat im Gefolge der wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen der Nachkriegszeit verelendete, rebellierende, antikapitalistisch gestimmte Massen von Kleinbürgern und Bauern mitzureißen vermocht. Die Kapitalistenklasse hat sich dieser plebejischen rebellischen Bewegung bedient; aber sie dachte ursprünglich keineswegs daran, ihr die Macht zu überantworten. Sie hat es schließlich nicht ohne Widerstreben undBesorgnis tun müssen. Aber indem diese Kleinbürgerrebellion die Demokratie zerschlug und damit die Volksmassen entrechtete und entmachtete, während die ökonomische Macht und damit auch der ideologische und politische Einfluß des Großkapitals und des Großgrundbesitzes ungebrochen blieb, ging gerade aus der. plebejischen. Rebellion der Deklassierten aller Klassen, gerade aus der antikapitalistischen Rebellion der Kleinbürger und der Bauern, gerade aus dem zeitweiligen Gleichgewicht der Klassenkräfte die schrankenlose Diktatur des Großkapitals und des Großgrundbesitzes hervor.
Aber wenn mittels der faschistischen Diktatur die Kapitalistenklasse herrscht, so ist doch in der faschistischen Diktatur so wenig wie in den früheren Staatsordnungen des Kapitalismus die herrschende Klasse identisch mit der regierenden Kaste. In der Zeit des liberalen Staates hat die herrschende Kapitalistenklasse die Besorgung der parlamentarischen, die Führung der Regierungsgeschäfte in vielen Ländern den liberalen Fraktionen des Grund- und des Amtsadels überlassen: in England den Whigs, in Österreich dem „verfassungstreuen Großgrundbesitz“ und der „josefinischen“ Bürokratie, in Rußland dem Semstwoliberalismus. [3] In der bürgerlichen Demokratie hat die Bourgeoisie mittels der regierenden Kaste der Berufspolitiker der bürgerlichen Massenparteien geherrscht. Unter der faschistischen Diktatur üben Großkapital und Großgrundbesitz ihre Diktatur aus, indem sie sich der regierenden Kaste bedienen, die durch den Sieg des Faschismus zur Macht gelangt ist. Wie im liberalen, wie im demokratischen Staat entstehen auch hier zeitweilig Spannungen, Gegensätze, Konflikte zwischen der herrschenden Klasse und der regierenden Kaste. Diese Gegensätze, zeitweilig schroff in den Anfängen der faschistischen Diktatur, gemildert, sobald der Faschismus den utopistischen kleinbürgerlichen Radikalismus in seinen eigenen Reihen niedergeworfen hat, entstehen doch immer von neuem; die aus der Wirtschaftskrise hervorgegangene, vom Faschismus weiter entwickelte „dirigierte Ökonomie“ zwingt die faschistische Diktatur tagtäglich zu wirtschaftlichen Entscheidungen, die die Interessen bald dieser, bald jener Fraktion der herrschenden Kapitalistenklasse verletzen und dadurch die regierende faschistische Herrenkaste in Gegensatz zu Fraktionen der herrschenden Kapitalistenklasse setzen.
In der ersten Phase ihrer Entwicklung kann die faschistische Diktatur allerdings nicht nur die ganze Kapitalistenklasse, sondern über sie hinaus breite Volksmassen um sich scharen. Denn der einheitliche starke rücksichtslose Wille der Diktatur kann Leistungen vollbringen, zu denen die Demokratie, durch die inneren Kämpfe zerrissen, von Kompromiß zu Kompromiß schwankend, zu rücksichtslosem Vorgehen gegen widerstrebende Sonderinteressen wenig tauglich, nicht fähig gewesen war. Der Offiziersgeist der Diktatoren erzwingt Autorität und Disziplin in der öffentlichen Verwaltung; ganz Europa ist entzückt, weil die Eisenbahnzüge in Italien pünktlicher als vorher ankommen. Rücksichtsloses Zugreifen schüchtert den Schieber ein; so kann die Diktatur die Verschleppung des nationalen Geldes ins Ausland verhindern, sein Angebot auf den ausländischen Märkten verknappen und dadurch seinen Kurs halten, auch wenn sie große Mittel für Arbeitsbeschaffung und Aufrüstung inflationistisch aufbringt. Viel weniger als die bürgerliche Demokratie durch Sonderinteressen einzelner kapitalistischer Schichten, durch wirtschaftspolitische Traditionen und Vorurteile gehemmt, kann sie die „dirigierte“ Ökonomie viel schneller entwickeln, die Arbeitslosigkeit mit den Mitteln inflationistischer und überprotektionistischer Wirtschaftspolitik schnell eindämmen. Rücksichtslos drückt die Diktatur die Löhne, baut sie die „sozialen Lasten“ ab; so kann sie die Profite wiederherstellen. Rücksichtslos verhält sie, die Arbeitslosen zur Zwangsarbeit; so kann sie sich großer öffentlicher Arbeiten rühmen. Aus einer nationalistisch-militaristischen Bewegung hervorgegangen, wirft sie alle regionalen Partikularismen gewaltsam nieder und stellt damit die nationale Einheit her, treibt sie kühne auswärtige Politik und Rüstungspolitik, deren Aggressivität die demokratischen Staaten erschreckt und in die Defensive drängt; so wird ihr Prestige durch große Erfolge gehoben.
Aber im weiteren Verlaufe der Entwicklung verengert sich die gesellschaftliche Basis der faschistischen Diktatur. Sie kann dank der Regulierung des Zahlungsverkehrs mit dem Auslande den Kurs des nationalen Geldes lange Zeit halten, auch wenn sie es im Inlande durch inflationistische Beschaffung der Mittel für Arbeitsbeschaffung und Aufrüstung entwertet; aber die Spannung zwischen Kurs und Kaufkraft wird zum Hindernis des Exports und die inflationistische Entwertung des Geldes im Inlande wird den Volksmassen in drückender Teuerung fühlbar. Militaristisch-nationalistisch gerichtet, baut die Diktatur die „dirigierte Wirtschaft“ zur Vorbereitung der Kriegswirtschaft aus und bürdet damit nicht nur den breiten Volksmassen schwere Opfer auf, sondern gerät auch mit mächtigen kapitalistischen Interessen in Widerstreit. Die hohen Kosten der Aufrüstung, die sie betreibt, belasten nicht nur die Volksmassen, sondern auch das Kapital. Ihre aggressive nationalistische Außenpolitik stürzt das Land in Verwicklungen, die im Kriege zu enden drohen. Ihr Anspruch auf „totalitäre“ Beherrschung des ganzen Lebens der Nation, auch ihres geistigen Lebens, gerät in Widerstreit mit Traditionen und Ideologien vieler Schichten der Bourgeoisie. So geraten große Fraktionen der herrschenden Kapitalistenklasse in Opposition gegen die Diktatur der regierenden faschistischen Kaste. Nur die gewaltgläubigsten, gewaltbedürftigsten Fraktionen der Kapitalistenklasse, diejenigen, denen die gewaltsame Niederhaltung des Proletariats im Innern und eine kühne, kriegerische Politik nach außen jedes wirtschaftliche Opfer und jedes Opfer des Intellekts wert sind, bleiben um die Diktatur geschart, bleiben ihre Stützen und ihre Herren zugleich. Die Diktatur des Kapitals mittels der aus der militärisch-nationalistischen Kriegsteilnehmerbewegung hervorgegangenen Herrenkaste verengert sich zur Diktatur der kriegerischen Fraktion der Kapitalistenklasse.
Die pazifistischen Elemente der Kapitalistenklasse, – die auf den Export angewiesene Fertigfabrikat-Industrie, die friedlichen Warenaustausch zwischen den Völkern braucht; der Handel, der durch die Kriegswirtschaft unterbunden wird; die Rentnerklasse, die den Sturz der Anlagepapiere im Kriegsfalle fürchtet, werden in den Hintergrund gedrängt. Die kriegerischen Elemente der Kapitalistenklasse, vor allem die Rüstungsindustrien und die mit dem Offizierskorps versippte grundbesitzende Aristokratie, erlangen die Oberhand. Da das Kapital seine Diktatur mittels der kriegerischen Führerkaste ausübt, die aus der nationalistisch-militaristischen Kriegsteilnehmerbewegung hervorgegangen ist, obsiegen innerhalb der Kapitalistenklasse die kriegerischen Tendenzen. Die aggressive, expansionistische, gegen die Machtverteilung, die aus dem letzten Kriege hervorgegangen ist, gerichtete Politik der faschistischen Mächte verschiebt alle Machtverhältnisse auf dem Kontinent, sie erfüllt alle Staaten mit gegenseitigem Mißtrauen, sie führt zu neuem Wettrüsten, sie droht in neuem Kriege zu enden.
Es ist natürlich kein Zufall, daß eine solche kriegerische Diktatur des Kapitals gerade in Italien und in Deutschland zuerst obsiegt hat. In beiden Ländern war ihr Sieg durch die besondere nationalpolitische Situation gefördert: in Italien durch die besondere Gestaltung, die der Klassenkampf unter der Einwirkung des Kampfes für und gegen das Eingreifen Italiens in den Kriegangenommen hatte; in Deutschland durch die Wirkungen der Niederlage im Kriege. Aber hat der Faschismus einmal in zwei großen Staaten gesiegt und seine Herrschaft stabilisiert, so kann sein Vorbild auch in anderen Ländern und unter anderen Umständen, in denen nicht dieselben national-politischen Voraussetzungen gegeben sind, nachgeahmt werden.
Der Faschismus hat der Kapitalistenklasse aller Länder gezeigt, daß eine entschlossene Minderheit wagemutiger Landsknechte genügen kann, das ganze Volk aller Freiheitsrechte, aller demokratischen Institutionen, aller selbständigen Organisationen zu berauben, die Arbeiterklasse völlig niederzuwerfen, eine kapitalistisch-militaristische Diktatur aufzurichten. Dieses Beispiel lockt zur Nachahmung auch dort, wo die Voraussetzungen des Sieges des Faschismus nicht dieselben sind wie in Italien und in Deutschland. Kennzeichnend dafür ist die Entstehung der faschistischen Diktatur in Österreich.
Österreich war durch die Niederlage im Weltkrieg noch weit schwerer getroffen worden als Deutschland. Das große Reich zerfiel, ein kleines Ländchen, politisch ohnmächtig, wirtschaftlich hilflos, blieb von ihm übrig. Seine Industrie, ihrer alten Absatzgebiete beraubt, schrumpfte zusammen. Sein Bürgertum und seine Bauernschaft schwankten zwischen der Hoffnung auf den Anschluß an das Deutsche Reich und der Hoffnung auf die Wiederherstellung der alten Donaumonarchie. Eine faschistische Bewegung entstand auch hier; aber sie enthielt von Anfang an in sich den Keim der Spaltung zwischen den deutsch-national und den österreichisch-patriotisch gesinnten Elementen; zwischen denen, die den Anschluß an Deutschland, und denen, die die Wiederherstellung der Habsburgermonarchie als ihr letztes Ziel betrachteten; zwischen dem von der Schwerindustrie, die deutsches Kapital beherrschte, subventionierten faschistischen Nationalismus und der von dem aristokratischen Großgrundbesitz geführten schwarz-gelben Reaktion. Als der Nationalsozialismus in Deutschland siegte, eroberte er im Sturm auch große Teile des deutschösterreichischen Volkes; der altösterreichische, habsburgisch gesinnte klerikale Separatismus setzte sich gegen die drohende Aufsaugung des Landes durch das Dritte Reich zur Wehr. Die deutsch-österreichische Bourgeoisie, durch den alten Gegensatz zwischen ihrem Deutschtum und ihrem Österreichertum zerrissen, konnte mit demokratischen Mitteln ihre Herrschaft nicht mehr aufrechterhalten. Ihre österreichisch-klerikale Fraktion hätte, um den Ansturm des Nationalsozialismus auf dem Boden der Demokratie abzuwehren, die Bundesgenossenschaftder Arbeiterklasse suchen müssen und wäre dadurch zur Gefangenen der Arbeiterklasse geworden; das wollte sie am allerwenigsten in dem Augenblick, in dem der Sieg Hitlers über die deutschen Arbeiter ihren Wunsch stärkte, auch in Österreich die Macht der Arbeiterklasse zu zerbrechen. So entschloß sich die klerikale, österreichisch-patriotische, dem Anschluß an Deutschland feindliche Fraktion der deutschösterreichischen Bourgeoisie, die Staatsgewalt zur Aufrichtung einer Diktatur zu benützen, die den deutsch-nationalistischen Faschismus und die Arbeiterklasse zugleich gewaltsam niederhalten soll. Sie ahmte dabei äußerlich die Methoden des Faschismus nach. Sie knüpfte an die faschistische Ideologie an und verknüpfte sie mit katholischem Klerikalismus. Aber in Wirklichkeit ist ihre „Vaterländische Front“ nicht, wie die faschistische Partei Italiens und die nationalsozialistische Partei Deutschlands, aus einer volkstümlichen Massenbewegung hervorgegangen, sondern von der Regierung erfunden und gegründet, mit den Gewaltmitteln des Staates den Volksmassen aufgezwungen worden. In Wirklichkeit ist der Faschismus hier nicht das Naturprodukt elementarer Massenbewegungen und Klassenkämpfe, sondern ein Artefakt, das die gesetzliche Staatsgewalt dem Volke auferlegt hat.
Die Entwicklung der Waffentechnik hat die Staatsgewalt gegen die Volksmassen mächtig gestärkt: im Besitze von Maschinengewehren, Geschützen, Tanks, Panzerzügen, Kriegsflugzeugen, Giftgasen kann die Staatsgewalt Jedes Volk niederwerfen, seiner Freiheitsrechte und seiner demokratischen Institutionen berauben. Die Entwicklung der „dirigierten Wirtschaft“ vergrößert gewaltig die Macht des Staates über alle Unternehmungen und damit über die in ihnen arbeitenden Volksmassen; diese gewaltige Macht des Staates kann zum politischen Herrschaftsmittel werden und ist zu ihm geworden. Die moderne Technik, vor allem Rundfunk und Film, monopolisieren wirksame Mittel zur geistigen Beeinflussung der Volksmassen in den Händen des Staates. Der Faschismus hat alle Mittel der Massenorganisation und der Massendemonstrationen, die die Parteien auf dem Boden der Demokratie entwickelt hatten, vor allem die Kinder- und Jugendorganisation, die politische Verwertung des Sports, die Suggestivwirkung großer Massenaufmärsche, aus Mitteln des Kampfes der Volksmassen in Mittel ihrer Beherrschung verwandelt. Ober alle diese Mittel der militärischen Gewalt, der ökonomischen Macht und der geistigen Massenbeherrschung verfügend, kann die Kapitalistenklasse überall die Staatsgewalt dazu benutzen, Ansätze faschistischer Bewegungen, die sich unter demEindruck des deutschen und italienischen Beispiels überall bilden, schnell und mächtig zu entwickeln und sie zur Aufrichtung ihrer Diktatur zu benützen. So hat die legale Staatsgewalt, die Methoden des italienischen und des deutschen Faschismus nachahmend, die Diktatur in Österreich und in den baltischen Ländern aufgerichtet. So ringen nun in allen kapitalistischen Ländern faschistische Verbände um eine Gelegenheit, sich mit der legalen Staatsmacht zu alliieren und durch sie zur Macht zu kommen.
Die Siegesaussichten des Faschismus sind allerdings keineswegs in allen Ländern gleich. Sie sind in Ländern, deren kapitalistische Wirtschaft besonders schwere Erschütterungen erlitten hat, als in Ländern mit starkem, widerstandsfähigerem Kapitalismus. Sie sind in Ländern, die vor nicht langer Zeit durch große revolutionäre Prozesse hindurchgegangen sind, weit größer als in Ländern, die seit vielen Jahrzehnten keinen Krieg und keine Revolution erlebt haben. Sie sind in Ländern, deren Demokratie alt und in den Vorstellungen des Volkes tief verwurzelt ist, kleiner als in jungen Demokratien. Aber es gibt kaum ein kapitalistisches Land, in dem nicht die Möglichkeit bestünde, daß die Kapitalistenklasse in einem Augenblick schwerer wirtschaftlicher und sozialer Erschütterungen, in einem Augenblick scharfer Zuspitzung der Klassengegensätze die Staatsgewalt zur Zertrümmerung der Demokratie, zur Aufrichtung ihrer Diktatur benützt. Gewiß, auch die Bourgeoisie, auch die einzelnen Mitglieder der Kapitalistenklasse haben schwere Hemmungen zu überwinden, ehe sie sich zum Faschismus entschließen, – Hemmungen, die in der ganzen Geschichte der Bourgeoisie begründet, in ihrer ganzen Tradition und Ideologie gelegen sind. Denn die faschistische Diktatur zerstört die wertvollsten rechtlichen und kulturellen Errungenschaften des ganzen Zeitalters bürgerlichkapitalistischer Entwicklung von der Reformation über die bürgerliche Revolution bis zur bürgerlichen Demokratie. Sie zerstört rechtsstaatliche Einrichtungen, die schon der Absolutismus unter dem, Einfluß der bürgerlichen Aufklärung begründet, durch die er dem Bürger Rechtssicherheit und Rechtsschutz zugestanden hat. Sie zertrümmert die Freiheitsrechte, die der bürgerliche Liberalismus einst dem Absolutismus abgerungen hat, und vernichtet demokratische Organisationen und Körperschaften, die das Bürgertum aufgebaut und durch die es seine Interessen gewahrt hat. Sie vernichtet die geistige Freiheit, in der allein bürgerliche Wissenschaft sich entfalten konnte. Sie unterwirft jeden Einzelnen der schrankenlosen Willkür der Machthaber, sie gibt die physische Existenz jedes Einzelnen der Mißhandlung und Vernichtung durch faschistische Banditen, die wirtschaftliche Existenz auch des Bürgers der Allgewalt des Staates preis. Sie wirft mit alledem die Gesellschaft in einen seit Jahrhunderten überwundenen Zustand der Barbarei zurück. Aber vor die Wahl zwischen ihren Profiten und ihren Traditionen, ihren Ideologien, den Errungenschaften ihrer eigenen Geschichte gestellt, wählt die Kapitalistenklasse ihre Profite. Vor die Wahl zwischen der Bedrohung ihrer Profite und der Barbarei gestellt, wählt sie die Barbarei.
Die große Welle des Faschismus, die sich im Gefolge der Weltwirtschaftskrise über Europa ergoß, erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren 1933 und 1934. Nach den Siegen des Faschismus in Deutschland, Österreich und den baltischen Ländern erstarkten faschistische Bewegungen in allen demokratischen Staaten. Aber infolge des wirtschaftlichen Belebungsprozesses der Jahre 1934 und 1935 kamen diese Bewegungen nicht zur Entwicklung. Wo sich, wie in Großbritannien, in den skandinavischen Ländern, in Belgien, die wirtschaftliche Lage fühlbar gebessert hat, ebbte die faschistische Welle bald wieder ab. Nur in Frankreich, das später als die anderen Länder von der Wirtschaftskrise erfaßt wurde, wo die Krise später ihren Tiefpunkt erreicht hat, wo die Bourgeoisie die Krise später als in den anderen Ländern mit den Mitteln der Deflation bekämpft hat, blieb der Faschismus eine aktuelle Bedrohung der Demokratie. Damit blieb er freilich allen demokratischen Ländern des Kontinents gefährlich; denn wenn er in Frankreich siegte, so könnte sich kaum noch eine der kontinentalen Demokratien seines Angriffs erwehren. Aber selbst wenn mit der allmählichen Überwindung der Weltwirtschaftskrise die faschistische Gefahr in den noch demokratischen Ländern zunächst schwinden sollte, werden neue Wellen faschistischer Gefahren kommen, sobald der wirtschaftlichen Belebung schwere Rückschläge folgen, sobald große Klassenkämpfe, Kriegsgefahr und Krieg die kapitalistische Gesellschaft neuerlich erschüttern. Hat schon die Bedrohung der Profite durch die Weltwirtschaftskrise genügt, die Bourgeoisie dem Faschismus in die Arme zu werfen, so wird die Bourgeoisie erst recht ihre Zuflucht in der Diktatur suchen, wenn erst ihr Eigentum selbst, ihre Gesellschaftsordnung bedroht sein wird.
Diese Erfahrung zerstört die Illusion des reformistischen Sozialismus, daß die Arbeiterklasse friedlich und allmählich durch bloße Ausnützung der demokratischen Institutionen, ohne revolutionären Sprung die Formen der Demokratie mit sozialistischem Inhalt erfüllen, die kapitalistische Gesellschaftsordnung zueiner sozialistischen entwickeln könne. Hat die Arbeiterklasse erlebt, daß die Schärfe der Klassengegensätze die Demokratie sprengt, um die faschistische Diktatur des Kapitals aufzurichten, so muß sie erkennen, daß eine vollkommene und dauerhafte Volksfreiheit erst gesichert sein wird, wenn die Klassen selbst und damit die Klassengegensätze der kapitalistischen Gesellschaftsordnung aufgehoben sein werden. Hat sie gehofft, durch Ausnützung der Demokratie eine sozialistische Gesellschaftsordnung erringen zu können, so muß sie jetzt erkennen, daß sie zuerst ihre eigene Herrschaft erkämpfen und durch sie eine sozialistische Gesellschaftsordnung aufbauen muß, ehe eine vollkommene und dauerhafte Demokratie möglich wird.
1. Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, Frankfurt-Main 1965 (Sammlung Insel Bd.9), S.121 [Anm. d. Hrg.]
2. Silone, Der Faschismus, Zürich 1934, S.70, 71.
3. Marx und Engels, Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rjasanoff, Stuttgart 1917, I. Bd., S.4, 5; II. Bd., S.129, 164, 166.
Leztztes Update: 3.8.2008