MIA > Deutsch > Marxisten > Max Adler > Kausalität u. Teleologie
In diesem Stand der Dinge haben die letzten zwei Jahrzehnte eine die längste Zeit nur wenig beachtete, aber in der jüngsten Gegenwart immer mehr Aufmerksamkeit beanspruchende und auch gewinnende Wendung gebracht, die uns endlich von dem Streit über die zahllosen Einzeldinge in den Geisteswissenschaften erlösen dürfte, dafür aber nicht mehr und nicht weniger als die ganze bisherige Art der Geisteswissenschaften in Frage stellt. Es ist dies jene Aenderung des Streites, die wir früher als den Streit um die Wissenschaft selbst bezeichnet haben. Der Zwiespalt der Auffassungen, der so lange latent vorhanden war, wurde endlich mit Bewusstsein aufgedeckt: die Kritik setzte nicht mehr in Einzelfragen, sondern bei den Grundanschauungen selbst an. Ein gewaltiger Ansturm erfolgt nunmehr gegen den Begriff einer Geisteswissenschaft, die nur in ihrem Gegenstande und nicht auch in ihrer ganzen Art von der Naturwissenschaft verschieden wäre. Und während die Existenz von sozialen sowie historischen Gesetzen durchaus negiert wird, wird zugleich ein besonderer und ganz eigenartiger Begriff der Gesetzmässigkeit aufgestellt, welcher allein die Wesenheit des geistig-sozialen Lebens richtig zu bezeichnen und von der kausalen Naturgesetzmässigkeit zu unterscheiden imstande sei. Nicht nur die Fülle und Bedeutung der Argumente, schon der Klang der Namen allein, die diese neue Richtung anführen, müsste ihr die intensivste Aufmerksamkeit und gründlichste Beachtung sichern. Es sind da vor allem zu nennen, in chronologischer Reihenfolge ihres Auftretens angeführt: Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Rudolf Stammler und Hugo Münsterberg. Im einzelnen finden sich bei diesen Denkern sehr weitgehende Verschiedenheiten in der Ausführung ihres Standpunktes, wie sie ja auch nicht alle das gleiche Gebiet der Geisteswissenschaften im Auge haben, Stammler mehr die Sozialwissenschaft im allgemeinen, Dilthey, Windelband und Rickert mehr die Geschichte, Münsterberg endlich mehr das Verhältnis von Geisteswissenschaft und besonders Geschichte zur Psychologie. Aber ich glaube, das diese persönlichen Differenzen, auf welche leider hier, wo es sich ja nur um die Darstellung einer unserem bis jetzt eingenommenen Standpunkt entgegentretenden Gesamtauffassung überhaupt handelt, nicht näher eingegangen werden kann, dennoch nicht so weit gehen, dass sie es unmöglich machen würden, in den Lehren der vorgenannten Denker eine gemeinsame Grundanschauung zu erkennen. Als solche lässt sich nun wohl folgender Gedankengang feststellen. [1]
Sie gehen fast durchaus von einer Selbstbesinnung über das Wesen des naturwissenschaftlichen Denkens aus und finden es durch nachstehende Merkmale charakterisiert. Alles naturwissenschaftliche Denken fasst seinen Gegenstand durchaus als Objekt auf, das heisst als eine vom erkennenden empirischen Subjekt losgelöste, unabhängige Wesenheit, deren unvermitteltes, dem Subjekt fast Gewalt antuendes Gegenübertreten in diesem das Bedürfnis hervorruft, die Kluft zwischen sich und dem Objekt durch Erklärung dieses Rätselhaften zu überbrücken. Dies ist aber nur möglich, wenn das Objekt aus seiner Isoliertheit, in der es vorkommt, aus seiner gleichzeitigen überwältigenden Mannigfaltigkeit, in der es sich hier und dort wiederholt findet, in einer Form gedacht werden kann, welche dieses proteusartige Wesen in seinem eigentlichen Gehalte dergestalt erfasst, dass es mit ihrer Hilfe an allen Orten, zu jeder Zeit und in jeder beliebigen Gestaltung seines Auftretens wiedererkannt, ja sogar vorausbestimmt zu werden vermag. Darum nimmt alle Naturwissenschaft ihre Richtung zum Allgemeinen. Das Einzelobjekt in seiner konkreten Gestaltung hat gar nicht das volle Interesse der Naturwissenschaft. Für sie existiert diese ganze vielgeartete, lebensvolle Welt, dieser jauchzend schöne Aufbau der freien Natur, das Durcheinanderwogen der Gestaltungen im Reich des organischen Lebens, das tiefe Spuren ziehende Gleiten der Gedanken und Gefühle im Reich des Geistigen nicht anders als in der Abstraktion des Begriffes, der das Gesetz vorbereitet; oder, um mit Windelband zu reden: „So anschaulich ihre Ausgangspunkte sein mögen – ihre Erkenntnisziele sind die Theorien, in letzter Instanz mathematische Formulierungen von Gesetzen der Bewegung: sie lässt – echt platonisch – das einzelne Sinnending, das entsteht und vergeht, im wesenlosen Schein hinter sich und strebt zur Erkenntnis der gesetzlichen Notwendigkeiten auf, die in zeitloser Unwandelbarkeit über alles Geschehen herrschen. Aus der farbigen Welt der Sinne präpariert sie ein System von Konstruktionsbegriffen heraus, in denen sie das wahre, hinter den Erscheinungen liegende Wesen der Dinge erfassen will, eine Welt von Atomen, farblos und klanglos, ohne allen Erdgeruch der Sinnesqualitäten – der Triumph des Denkens über die Wahrnehmung. Gleichgültig gegen das Vergängliche wirft sie ihre Anker in das ewig sich selbst gleich Blei- bende; nicht das Veränderliche als solches sucht sie, sondern die unveränderliche Form der Veränderung“. [2]
Erklären ist der Lebensnerv dieser Naturwissenschaft: aber erklären heisst, den wirklichen Vorgang als Objekt ansehen und ihn damit in einen durch das Kausalschema getragenen Zusammenhang stellen, in welchem er nur mehr mit dem seinen Platz hat, was an ihm dem Allgemeinen zugekehrt und daher der auf das Allgemeine gerichteten Abstraktion zugänglich ist. Alles, was an dem Einzelding oder Vorgang nicht zum Allgemeinen gehört, was also seine Besonderheit, seine historische Konkretheit, seine Individualität ausmacht, das bleibt für immer aus den Kategorien der Naturwissenschaft ausgeschlossen, fällt durch die Maschen ihres Netzes wie ein formloser Bodensatz ab. Darum muss schon in ihrem eigensten Bereiche, in dem der Objektwelt, die Naturwissenschaft alle Hoffnung fahren lassen, sie je durch ihre Begriffe und Gesetze restlos zu erfassen. Der Traum einer Laplaceschen Weltformel, welche das Universum in seiner mannigfaltig individuellen Abfolge der Geschehnisse zu bestimmen vermöchte, ist nicht mehr als ein Traum. Denn ein bestimmter Lagerungszustand der Atome, in welchen ja diese Formel Jeden Augenblick des Weltalls aufgelöst denkt, folgt nie aus der Formel selbst, sondern nur gemäss der Formel aus dem vorausgehenden Lagerungszustand. Das Gesetz, die Formel sagt also nur, wie ein solcher Zustand aus dem anderen berechnet werden kann. Um aber diese Rechnung auszuführen, müsste eben dieser andere Zustand gegeben sein, müsste man also die Lagerung der Weltatome im Sandkorn und Meerestropfen so gut wie im Menschenhirn und Siriusgestirn feststellen, was, ganz abgesehen von der tatsächlichen Unmöglichkeit, auch prinzipiell aus jeder Naturwissenschaft herausfällt, da es eben keine begrifflich-verallgemeinernde Arbeit mehr, sondern eine historisch-individuelle Aufzeichnung alles konkreten Seins in Raum und Zeit ist. [3] Hier streift jedes noch so vollkommen gedachte Naturerkennen an eine seiner logischen Grenzen: nämlich an die Irrationalität der ursprünglichen Austeilung des Stoffes in Raum und Zeit und seiner qualitativen Beschaffenheit, oder mit Kant gesprochen, an das in der Wahrnehmung „Gegebene“.
Es gibt aber noch eine andere Grenze für die Naturwissenschaft, die viel bedeutsamer ist, weil sie nicht bloss, wie die vorige, fast mit der des Erkennens überhaupt zusammenfällt, sondern im Gegenteil mitten durch dieses selbst verläuft und so das Naturerkennen von einem Reich viel tiefer eindringenden Wissens abscheidet. Das ist der Punkt, an dem jene zweite Art der Auffassung menschlichen Lebens eigentlich einsetzt, von der vorhin die Rede war, und die darüber hinaus auch noch alles Daseiende überhaupt unter ihren durchaus eigenartigen, dem naturwissenschaftlichen völlig heterogenen Blickpunkt bringt.
Sobald wir nämlich auf unser Ich reflektieren, wenn wir also uns selbst in unserer Eigenart bewusst zu werden suchen, so finden wir uns gar nicht zunächst als erkennendes Subjekt vor. Wie wir unmittelbar unser selbst gewiss sind und uns jeden Moment am sichersten empfinden, was wir als unbestreitbarste Realität erleben, das ist, dass wir mit jedem Gedanken und Wissensstreben, mit jedem Gefühl, mit der kraftvollen Willensbetätigung so gut wie mit auftauchenden Stimmungen und wechselnden Launen ein in jedem Lebensmomente stellungnehmendes Wesen sind. Unser Sein ist gar nicht vor allem Erkennen, Intellektualität: es ist ganz und zuerst Wollen, Aktualität. Alle wirkliche Betätigung, in welcher wir unser Leben, unsere Wesenhaftigkeit als real empfinden, ist immer nur ein fortgesetztes Stellungnehmen, ein für wahr Annehmen oder als falsch Verwerfen, ein Billigen und Missbilligen, ein Anstreben oder Von-sich-weisen. Und darum ist es so charakteristisch, dass der ganze Inhalt unseres Lebens auf seinen drei grossen Gebieten, im Erkennen, im Handeln und im Geniessen, überall sich in die elementare Form der Polarität auseinanderlegt, in den durchgehenden Gegensatz der Anerkennung und Ablehnung, welcher nur bei Voraussetzung einer Stellungnahme einen Sinn hat. In den grossen Fundamentalgegensätzen von Wahr und Falsch, Gut und Böse, Schön und Hässlich ist es stets eines, was das Ich aufnimmt, und dann bildet es durch diesen Wertungsakt seine Welt der Wahrheit, Sittlichkeit und des Ideals – und ein anderes, was es verwirft, und da eröfinet sich dann der Abgrund des Irrtums, der Verworfenheit und des Absehens. [4] Wie das Ich dazu gelangt, in solch prinzipiellen Tathandlungen des Geistes diese obersten Gegensätze zu schaffen, ist ein Problem, das Erkenntnistheorie, vielleicht auch Metaphysik zu lösen berufen sind. Hier handelt es sich nicht darum, die Möglichkeit davon zu erörtern, sondern die Tatsache selbst nicht zu verkennen, die in dieser primären Stellungnahme gelegen ist; und damit sich der weiteren Einsicht nicht zu verschliessen, dass dieses ganze Leben, das wir so gewohnt sind, mit den objektivierenden, entgeistigenden Kategorien des Naturerkennens zu betrachten, wo immer es sich abspiele, im täglichen Verkehr und in der Politik ebenso wie in Wissenschaft, Kunst, Religion und Moral nichts anderes ist als ein System von Stellungnahmen. „All unser Glauben und Wissen und Achten und Fühlen,“ sagt Münsterberg, „stellt Systeme von wirklichen Beziehungen und Verneinungen, Wollungen und Hemmungen, Zustimmungen und Ablehnungen dar, deren Wirksamkeit unsere historische Stellung im Leben ausmacht; Franzose sein, Mohammedaner sein, Symbolist sein, Atheist sein, Hegelianer sein, bedeutet in der historischen Welt, Subjekt gewisser Systeme von wirklichen Akten der Stellungnahme sein.“ [5] Und das gilt sowohl von den Formen, in welchen das Einzel-Ich sein Leben nur auf sich selbst gestellt glaubt, als auch von jenen, deren soziale Natur offenkundig ist. Denn „diese unendliche Mannigfaltigkeit von Wollungen, deren Gesamtheit den Inhalt meines wirklichen Ichs bedeutet, weist überall auf fremde Wollungen hin, die ich anerkenne oder bestreite, nachahme oder überwinde ... Sage ich, ich bin ein Deutscher, so behaupte ich damit in erster Linie, dass ich eine Fülle von Gesetzen, Institutionen, Anschauungen und Idealen anerkenne, die alle als Willensforderungen einer unbestimmten Subjektvielheit an mich herantreten, einer Vielheit, deren Totalität die Geschichte Deutschlands ausmacht; und meine Anerkennung besagt, dass mein Wollen mit dem Wollen der Fordernden nicht psychologisch, wohl aber teleologisch identisch ist.“ [6]
Diese so allseitig sich dokumentierende Stellungnahme kommt nun aber gerade nur in ihrer konkreten Einzelhaftigkeit in Betracht. Sie verliert allen Sinn, sobald sie irgendwie unter einen allgemeinen Begriff der Naturwissenschaft gebracht, also etwa als Produkt dieser oder jener wirkenden Einflüsse aufgezeigt wird. Denn nun wollen wir nicht wissen, wie eine solche Stellungnahme überhaupt möglich war oder warum sie notwendig erfolgen musste, sondern wie sie war und ob sie in dieser einmal gegebenen Art richtig oder falsch, gut oder böse, schön oder hässlich war. Mit anderen Worten, diese ganze Welt des Geschehens, in der wir Menschen selbst nur ein Stück von ihm sind, läuft nicht bloss als eine indifferente Kausal- kette ab, sondern sie hat für uns überall und in jedem einzelnen Glied einen Wert, sofern wir darauf reflektieren, was in dem- selben einzigartig ist. Eben deshalb aber haftet der Wert notwendig nur an dem Konkreten, das der Träger des Einzigartigen ist, an dem Einzelvorgang, Einzelding, an der Persönlichkeit, welch’ alles eben als Einzelnes, somit gerade in diesem Wertvollen, von der Naturwissenschaft gar nicht berücksichtigt werden kann. [7] In die Welt kommt dieser Wert dadurch, dass der Mensch seiner Aktualität nach kein erkennendes, noologisches, sondern ein zwecksetzendes, teleologisches Wesen ist und in diesem Charakter sein ganzes Dasein auf die ihm immanenten obersten Zwecke des Erkennens, Handelns und Anschauens bezieht. Erst in einer besonderen Zweckbeziehung also, in der Beziehung auf den Wahrheitszweck entwickelt sich ihm die Wissenschaft, die daher weit davon entfernt, eine souveräne, allbefassende Existenz zu führen, nichts als ein Mittel ist zum Zwecke der widerspruchslosen Erfahrung.
Wie die Wertbeziehung derart also alle Seiten des menschlichen Daseins umschliesst, so gewinnen auch alle seine Einzelheiten erst in dieser Beziehung auf die obersten Werte ihre objektive Geltung, da sie ihnen den bestimmten Platz anweist, den sie mit der ganzen Realität und Wucht dieser prinzipiellen Stellungnahme fürderhin Jeder einzelnen Wollung und untergeordneten Wertung gegenüber behaupten können. Die einzelnen Akte dieser Stellungnahme aber, in denen sich alle diese Wertbeziehungen in Raum und Zeit vollziehen, machen den eigentlichen Inhalt des menschlichen Lebens, seine Geschichte aus. Halten wir mit Recht für erklärt, was uns als ein Spezialfall eines allgemeinen Gesetzes erwiesen wurde, so verstehen wir nur das, was uns als Ausfluss einer Stellungnahme klar erscheint. [8] Daher wird naturwissenschaftliches Denken uns nie erschliessen, was eben nie erklärt, sondern nur erlebt, nur innerlich nachempfunden werden kann. „Nie kann hier Verstehen in rationelles Begreifen aufgehoben werden. Es ist umsonst, aus Umständen aller Art den Helden oder den Genius begreiflich machen zu wollen. Der eigenste Zugang zu ihm ist der subjektivste. Denn die höchste Möglichkeit, das Gewaltige in ihm zu erfassen, liegt in dem Erlebnis seiner Wirkungen auf uns selbst, in der fortdauernden Bedingtheit unserer eigenen Lebendigkeit durch ihn. [9] In der Erfassung dieser eigenartigen In-Beziehung-Setzung der Welt zu einem stellungnehmenden Ich eröffnet sich so eine neue Welt, die als die Welt des Geistigen der Welt der Naturdinge gegenübertritt.
Auf diese Weise ergibt sich nun auch eine neue Scheidung von Natur- und Geisteswissenschaft, die aber – und das ist das Charakteristische dieser Denkart – nicht mehr wie bisher einen sachlichen Unterschied von Natur und Geist zur Grundlage hat, sondern nur mehr einen solchen des Standpunktes. Soferne die Wissenschaft an dem Einzelnen nur das erfasst, worin es mit dem Allgemeinen zusammenhängt, um es so in einem grossen Zusammenhang des Gesetzes zu denken, soferne liegt Naturwissenschaft vor. Aber dasselbe Einzelne kann auch in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit erfasst und dadurch in einen ganz andersartigen allgemeinen Zusammenhang gestellt werden, in welchem es nichts von seiner Besonderheit abgeben muss, das ist, in den Zusammenhang der Wertbeziehung, unter welche es in logischer, ethischer oder ästhetischer Hinsicht für ein stellungnehmendes Individuum fällt, und das ergibt dann ein zweites, grundverschiedenes System von Wissenschaften, das eines allgemein akzeptierten Namens noch entbehrt, aber genau den Platz einnimmt, der allein einem wirklich den Naturwissenschaften zur Seite zu setzenden System der Geisteswissenschaften entsprechen kann. Und wie verschieden auch die Namengebung ist – eigentliche Geisteswissenschaften bei Dilthey und Münsterberg, Kulturwissenschaften bei Rickert, idiographische oder historische (Ereignis-) Wissenschaften bei Windelband, Sozialwissenschaften bei Stammler – eine Verschiedenheit, die aus dem Unterschied der Bedeutung folgt, mit welcher diese Denker entweder die Wertbeziehung überhaupt oder eine besondere Form derselben oder die Einmaligkeit des Ereignisses als bedingende Grundlage dieser Wertbeziehung oder endlich die Form, in welcher dieser Wertzusammenhang allgemeine Geltung gewinnt, zum unterscheidenden Merkmal machen – ich sage, trotz dieser äusserlichen Mannigfaltigkeit des Standpunktes wendet er sich doch in völlig einheitlicher Kraft dahin, nach welcher Richtung alle einig sind, dass die bisher meistens als Geisteswissenschaften bezeichneten Disziplinen, soweit sie diese Wertbeziehung verkennen, also gerade um deswillen, weshalb sie sich selbst der Naturwissenschaft gleichwertig als Geisteswissenschaft betrachten, samt und sonders auf diesen Ehrentitel kein Anrecht haben. Indem sich die nach Gesetzen strebenden, am Leitfaden der Kausalität fortschreitenden Untersuchungen Geisteswissenschaften wähnen, weil sie ihr Objekt nicht in der toten oder unvernünftigen Natur, sondern im lebenden, geisterfüllten Menschendasein finden, verkennen sie nicht nur, dass ihr Einteilungsprinzip „Natur und Geist“ ein durchaus unkritisches ist, weil im Grunde ja die gesamte leblose Natur als Bewusstseinsinhalt „Geist" ist, sondern sie merken auch gar nicht, dass sie ihre eigene Existenz durch diesen innigen Anschluss an die Naturwissenschaft aufheben. Denn diese Art Geisteswissenschaft unterscheidet sich in ihrer konsequenten Durchführung und gemessen an den wissenschaftlichen Ideal, dem sie zustrebt, in nichts von den Naturwissenschaften. Sie hat mit ihnen dieselben Denkmittel – allgemeine Begriffe, dieselbe Methode – die unter das Kausalschema gestellte Induktion und Deduktion, dasselbe Ziel – kausale Gesetzmässigkeit – gemeinsam. Wie es gerade in der wissenschaftlichen Konsequenz des naturwissenschaftlichen Denkens gelegen ist, dass – wenigstens als Postulat – eine lückenlose Kette des Begreifens von der Atombewegung durch die verschiedenen Gestaltungen der anorganischen Materie hinaufführe bis zum Zusammenschluss im Organismus und von da wieder bis zu einer Mechanik des psychischen Lebens» so dass also überall nur die Kombination der Naturkräfte wechselt und reicher, verflochtener wird» nirgends aber etwas anderes anzutreffen sei als eben Natur in ihrem ewigen Kräftespiel: so ist es auch dieser Geschlossenheit der naturalistischen Auffassung durchaus entgegen, irgendwo eine scharfe Scheidung ziehen zu können» die Natur vom Geiste trennte. Organisches und geistiges Leben sind Begriffe aus einer anderen Welt als Jener der Naturwissenschaft. Nur weil der naturwissenschaftiiche Forscher natürlich als Mensch von ihnen Kunde bat, kann er sich darüber täuschen, dass sie keinen Platz haben in seiner Wissenschaft, die stets darnach streben wird, von beiden in ihre Formeln aufzulösen, was eben in solche gefasst werden kann,
Daraus folgt nun insbesonders, dass die Psychologie, weit entfernt, die Grundlage der Geisteswissenschaften zu sein, durchaus in das Bereich der Naturwissenschaffen fällt, da sie ja auf die Erfassung der Gesetze des GeistesJebens, also auf das Allgemeine, Abstrakte darin, gerichtet ist; dass aber andererseits die Geschichte, welche es in der Tat nur mit dem Konkreten, mit dem einmaligen Geschehen und der einmaligen Entwicklung zu tun hat, eine echte Geisteswissenschaft ist, eben deshalb aber nie allgemeine Begriffe im Sinne der Naturwissenschaft und Gesetze aufweisen kann. Der Begriff eines historischen Gesetzes ist eine wahre contradictio in adjecto. Geschichte als Wissenschaft – sobald man sie nur nicht mit Soziologie verwechselt oder gar als eine (möglicherweise sehr interessante) Mischform von aller Art naturwissenschaftlicher, soziologischer, geisteswissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnis auffasst – kann nichts erklären, sondern sucht nur zu verstehen. Aus den ihr von den Naturwissenschaften» Psychologie und Soziologie inbegriffen, gelieferten Daten sucht sie durch Interpretation und Intuition – die eigentliche Methode der Geisteswissenschaften – Personen, Geschicke und den Sinn der Ereignisse der unbelebten Welt für die Menschen jeder Epoche zu ergründen und vermag so durch das Verständnis der wechselnden Lebensformen, das sie uns eröffnet, zum mächtigsten Hilfsmittel für die Entwicklung und Ausgestaltung echter Geisteswissenschaften zu werden. Denn „das Ideal der Geisteswissenschaften ist ja das Verständnis der ganzen menschlich-geschichtlichen Individuation aus dem Zusammenhang und der Gemeinsamkeit in allem Seelenleben“ [10]
Der Gegensatz der beiden möglichen Auffassungen vom geistig-sozialen Leben der Menschen führt also nach den Anschauungen der Denker, deren Lehren hier dargelegt wurden, notwendig zu einer zweifachen Art von Wissenschaft, Es ist nicht die Verschiedenheit des Objekts, sondern die der Methode und des Erkenntniszweckes, welche Natur und Geisteswissenschaften trennt; es ist die grundverschiedene Art des Zusammenhanges (der Gesetzmässigkeit), welche hier und dort das Einzelne umfasst und zum Gegenstand einer besonderen, eigenartigen Wissenschaft macht. p,ln dem einen Fall wird eine Gattung von Objekten unter ein System von Begriffen gebracht, das den Zweck hat, für jedes beliebige Exemplar zu gelten. In dem anderen Fall dagegen wird eine bestimmte Reihe von Wirklichkeiten so dargestellt, dass die Besonderheit und Individualität jeder einzelnen zum Ausdruck kommt [11], was nur unter Wertgesichtspunkten möglich ist. Die wissenschaftliche Arbeit, welche da meint, in ihrer lediglich an den Methoden der Naturwissenschaft orientierten Art auch das geistig-soziale Leben der Menschen ergründen zu können, sperrt sich daher auf diese Weise selbst von jeder Möglichkeit der Erreichung dieses Zieles ab, da ihr in solch' unkritischer und voreiliger Beschränkung buchstäblich gerade der wertvolle Teil des menschlichen Wesens und Daseins völlig entgeht. Die naturwissenschaftlichen „Geisteswissenschaften“ werden hier stets nur die äussere Schale gewiesen erhalten.
1. Von den hier in Betracht kommenden Schriften der im Text genannten Autoren seien hier ausser den später noch namhaft zu machenden anderen Arbeiten einstweilen als hauptsächlich die nachfolgende Gedankenentwicklung darlegende Werke angeführt: W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Leipzig 1883; W. Windelband, Präludien, Tübingen und Leipzig, 1. Auflage, 1883, 2. Auflage, 1903; Geschichte und Naturwissenschaft, Strassburg 1900; Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Tübingen und Leipzig, I. Teil 1896, II. Teil 1902, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, ebd., 1899; Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht, Leipzig 1896; Hugo Münsterberg, Grundzüge der Psychologie, Leipzig 1900. – In gewissem Sinne neuestens übereinstimmend der Hallenser Historiker Eduard Meyer, Zur Theorie und Methodik der Geschichte, Halle a. d. Saale 1902. Vergl. Seite 23–29. Uebrigens scheint mir die Ablehnung historischer Gesetze durch Meyer nur im methodologischen Gesichtspunkte mit jener von den oben genannten Denkern vertretenen Richtung, namentlich auch mit der des von Meyer zustimmend zitierten Rickert zusammenzutreffen, dagegen weit entfernt zu sein von der erkenntnistheoretischen Begründung, wie sie von diesem versucht wurde.
2. W. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, Seite 18. Vergl. W. Windelband, Präludien, 2. Auflage, Seite 290–291; H. Rickert, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1. Kapitel. Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt, Seite 31–147, dessen Ergebnis später gut zusammengefasst ist in dem Satz, Seite 212: „Dann aber können wir Natur der Dinge auch das nennen, was in die Begriffe eingeht, oder am kürzesten uns dahin ausdrücken: die Natur ist die Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine. So gewinnt dann das Wort (sc. Natur) erst eine logische Bedeutung.“ – W. Dilthey, Einleitung, Seite 12, 19; Seite 181: ,,Die Wirklichkeit kann nur durch Aussonderung einzelner Teilinhalte sowie durch die abgesonderte Erkenntnis derselben dem Gedanken unterworfen werden, denn in ihrer komplexen Form ist sie für denselben nicht anfassbar.“ – Die durch diese logische Natur des Allgemeinen bedingten, im Folgenden nun zur Darstellung gelangenden Grenzen des Naturerkennens im Sinne Windelbands und Rickerts finden sich bei Dilthey allenthalben trefflich auseinandergesetzt, siehe beispielsweise Seite 14–15, 171–172, 180.
3. Vergl. W. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, Seite 25; H. Rickert, Grenzen, Seite 508–511; W. Dilthey, Einleitung, Seite 12.
4. Vergl. Hugo Münsterberg, Grundzüge der Psychologie, I., I. Abteilung, Seite 7–200, besonders Seite 14, 50–55, 63; W. Dilthey, Einleitung, Seite 7–8, 114. – Rud. Stammler ist zwar nicht von diesem Gegensatz der Aktualität und Intellektualität ausgegangen. Aber seine so scharf herausgearbeitete Unterscheidung von Erkenntnis und Wille, welche zur unmittelbar einleuchtenden Scheidung einer kausalen und teleologischen Gesetzmässigkeit in Anwendung auf geistige Phänomene führt, und auf diese Weise nach seiner Lehre soziales Leben als eigenartiges Objekt einer von Naturwissenschaft sich ihrer ganzen Auffassung nach unterscheidenden Sozial Wissenschaft liefert, bewegt sich vollständig in der Richtung der oben im Text zur Entwicklung gelangenden logisch-erkenntniskritischen Begründung der teleologischen Auffassung. Vergl. Wirtschaft und Recht, speziell Einleitung, Seite 3 ff., II. Buch, I. Abschnitt, Seite 33 ff., und IV. Buch. I. Abschnitt, Seite 349 ff.
5. Münsterberg, a. a. O., Seite 116.
6. Münsterberg, a. a. O., Seite 116–117.
7. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, Seite 21–23; H. Rickert, Grenzen, IV., Kapitel II, Das historische Individuum, Seite 336 ff., besonders Seite 350–352.
8. Dilthey, Einleitung: „Wir verstehen nur vermittelst der Uebertragung unserer inneren Erfahrung auf eine an sich tote äussere Tatsächlichkeit“, Seite 172.
9. W. Dilthey, Beiträge zum Studium der Individualität, in dem Sitzungsberichte der Berliner Akademie, Jahrgang 1896, Seite 311. Vergl. Dilthey, Einleitung, Seite 171.
10. W. Dilthey, Beiträge etc., a. a. O.„ Seite 299.
11. H. Rickert, Ueber die Aufgaben einer Logik der Geschichte, im Archiv für systematische Philosophie (Neue Folge), VIII., 2. Heft, Seite 141.
Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020